Table Of ContentInhalt
Titel
Vorwort
Die Reise
Kindheit und Jugend
Die Mauer
Subversive Aktion
Der SDS
Unsere Entscheidung
Vietnam
Formierte Gesellschaft und politische Organisation
Zuspitzung
Der Anfang vom Ende des SDS
Die Ratten kommen aus den Löchern
Explosion
Nachdenken
Das Ende des SDS
Zersplitterung, Verbitterung
Cambridge
Herantasten
Aufrechter Gang
Doktorarbeit
Belebungen
Terror und Hysterie
Organisierungsversuche
Menschenrechte
Wyhl und Brokdorf
Der »deutsche Herbst«
Die neue Partei
Durchbruch
Zuletzt
Zeittafel
Buch
Autorin
Impressum
Mitarbeit: Christian v.Ditfurth
Zitate Rudi Dutschkes, die nicht in Anmerkungen
nachgewiesen sind, entstammen seinem Tagebuch.
Einfügungen in Zitaten sind in eckige Klammern gesetzt.
Es ist uns trotz großer Bemühungen nicht gelungen, alle
Urheber nicht veröffentlichter Briefe zu finden, aus denen in
diesem Buch zitiert wird. Die betreffenden Personen sind
gebeten, sich beim Verlag zu melden.
Die Reise
Ich kaufte mir eine Passage auf einem Frachter. Der sollte mich
weit wegbringen. Ich wusste nicht, wohin, und das war gut. Ich
hatte die Ausbildung gerade fertig und wollte weg, um einen
großen Abstand zwischen mir und den Schuldgefühlen zu
schaffen, die in der einschnürenden Enge von Familienmoral
und Religion gewachsen waren.
Das war im Januar 1964. Das Schiff sollte irgendwann in den
nächsten Wochen in See stechen. Der Abfahrtshafen irgendwo
an der Ostküste der USA und der Zielhafen irgendwo in Europa
waren nicht bekannt. Von Chicago, meiner Heimatstadt, aus
waren es mindestens 1500 Kilometer bis zur Ostküste. Ich
verabschiedete mich von meinen Eltern, die nicht viel sagten,
wie seit Langem – die Sprachlosigkeit unserer Entfremdung
voneinander. Meine Mutter sah traurig aus, aber sie versuchte
nicht, mich umzustimmen Sie wusste, dass ich in einer Welt
lebte, die ihr fremd war. Aber sie betete sicherlich, dass meine
Seele nicht in der Dunkelheit verloren gehe.
Mit meiner Gitarre, einem kleinen Koffer und wenig Geld reiste
ich zu meinem Freund Steve, der an der Yale-Universität
studierte, und wartete. Jeden Tag rief ich die Reederei an, und
jeden Tag erhielt ich die gleiche Antwort: »Wir wissen noch
nichts.« Ich bekam Bedenken. War es richtig? Konnte ich?
Wollte ich? Sollte ich lieber bei Steve bleiben? Aber mit einer
Zuversicht, die ich nicht fühlte, verkündete ich Steve: »Ich
werde in einem Jahr zurückkommen, nachdem ich Deutsch und
Französisch gelernt habe.«
Er antwortete mit einer Mischung aus Bewunderung und
Vorbehalten: »Ja, ja, du kannst aber auch hier bleiben, wenn du
willst, und wenn ich die Ausbildung beendet habe, können wir
heiraten.«
Aber ich murmelte verunsichert: »Ich muss erst die Welt
sehen.«
»Von Newport News aus in zwei oder drei Tagen«, antwortete
einer von der Reederei, als ich wieder einmal anrief.
»Es ist so weit«, rief ich aufgeregt zu Steve. »Wo ist Newport
News? Ich muss jetzt dorthin.« Wir fanden es auf der Karte.
Nah war es nicht.
Wieder gab es einen zähen Abschied voller Ungewissheit. Erst
am nächsten Tag war ich in Newport News. Eine Hafenstadt,
heruntergekommen, rau und voller zielloser Menschen. Ich
fand die Reederei und bekam die Auskunft: »Das Schiff fährt
heute nicht, vielleicht morgen.« Ich musste in dieser Nacht
irgendwo in der Stadt unterkommen. Es sah alles unglaublich
trostlos aus, und ich fragte mich wieder, wieso ich das alles
überhaupt machte, wo ich doch bei Steve hätte bleiben können.
Ich fand ein billiges Zimmer beim Christlichen Verein Junger
Frauen. Wir lagen dort zu dritt in nebeneinanderstehenden
Feldbetten. Die Frau neben mir sprach mich an. Sie kam vom
Land und fühlte sich von der Stadt überwältigt. Sie suchte
Arbeit und Halt und fand beides nicht. Sie sah schon etwas
mitgenommen aus, obwohl sie jünger war als ich. Mir
schauderte, und ich wunderte mich, dass das Leben einen so
schnell auszehren konnte. Ich bekam Angst davor und wollte es
nicht wahrnehmen, aber mein Bauch zog sich zusammen, und
ich spürte eine leichte Übelkeit.
Auch am nächsten Tag fuhr das Schiff nicht. Noch eine Nacht
im schäbigen Zimmer mit der Frau, die Arbeit suchte. Aber am
darauffolgenden Tag erfuhr ich in der Reederei, dass es endlich
losging. Es war Februar geworden, winterlich grau und trüb.
Auch das Schiff sah grimmig aus. Es war alt und von
Rostbeulen und Ruß überzogen. Langsam stieg ich die
wackelige Leiter zum Deck hinauf. Es waren schon einige
andere Passagiere da, und wir standen ratlos herum. Erst
nachdem sich das Schiff Stunden später mit
ohrenbetäubendem Sirenengeheul verabschiedet hatte, zeigte
ein Seemann den zwölf Passagieren, darunter vier Frauen, ihre
Kabinen. »Das Schiff bringt eine Ladung Kohle nach
Antwerpen«, sagte er. »Es wird vielleicht zwei Wochen dauern
oder auch nicht. Sie essen natürlich mit dem Kapitän.«
Nun waren wir mit vierzig Seeleuten zusammengepfercht in
einem rostigen Kahn auf einem endlosen Meer. Bald zog ein
beißender Wintersturm auf. Unser Frachter bockte wie ein
Pferd, das sich seines Reiters entledigen will. Beim Essen
erzählte der Kapitän, dass in der Nähe ein Schiff untergehe.
Ich begann zu kotzen. Noch nie in meinem Leben habe ich so
viel gekotzt, grün, eine Woche lang kam nur noch der
Magenschleim heraus. Ich dachte, ich würde sterben. Aber
eines Morgens wachte ich auf, und mein Magen verkrampfte
sich nicht mehr.
Nach zwei Wochen auf See waren die Menschen angespannt.
Die Matrosen kamen nachts auf Deck und schauten in die
Fenster der Kabinen, in denen die Frauen untergebracht
waren. Ich erwachte einmal aus einem Traum und sah mit
Schrecken die Augen eines Seemanns auf mich starren. Ein
anderes Mal sah ich, wie der Kapitän auf einen Matrosen
losging. Dessen Gesicht war blutüberströmt. Der Kapitän
drückte ihn schimpfend in eine Decksluke. Der Matrose wehrte
sich und krallte sich am Lukenrand fest. Aber dann lösten sich
seine Finger, und sein Körper verschwand in der Luke. Als der
Description:Die große Rudi-Dutschke-Biographie – der Bestseller endlich als KiWi-Paperback Gretchen Dutschke überrascht uns als Biographin ihres ermordeten Mannes. Dieses Buch ist antiautoritär und liebevoll, witzig und tragisch, analytisch und spannend. Es ist der letzte Text des Aufstands von 1968. Am En