Table Of ContentNR. 299 03.07.2015
russland-
analysen
http://www.laender-analysen.de/russland/
RUSSISCHE WIRTSCHAFT
■■ANALYSE
Lange Phase der wirtschaftlichen Stagnation wahrscheinlich 2
Gunter Deuber und Andreas Schwabe, Wien
■■ANALYSE
Inlandsinvestitionen und »deofschorisazija« – ein Paradigmenwechsel in der russischen Finanzpolitik? 9
Ewa Dąbrowska, Amsterdam/Berlin
■■ANALYSE
Russlands politische Antwort auf die »economic statecraft« des Westens 14
Richard Connolly, Birmingham
■■UMFRAGE
Meinungen zur Wirtschaftskrise 18
■■AUS RUSSISCHEN BLOGS
Das Petersburger Wirtschaftsforum. Überwindung der Isolation Russlands? 20
■■NOTIZEN AUS MOSKAU
Strangulierte Medienöffentlichkeit in Russland 22
Jens Siegert, Moskau
■■CHRONIK
18. Juni – 1. Juli 2015 25
► Deutsche Gesellschaft Forschungsstelle Osteuropa
für Osteuropakunde e.V. an der Universität Bremen
Die Russland-Analysen
werden unterstützt von
RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 2
ANALYSE
Lange Phase der wirtschaftlichen Stagnation wahrscheinlich
Gunter Deuber und Andreas Schwabe, Wien
Zusammenfassung
Der Wachstumsausblick für Russlands Wirtschaft hat sich bereits vor der Ukraine-Krise auf Grund struk-
tureller Limitationen verschlechtert. Verstärkt wird dieser Trend nun durch nicht zu unterschätzende Fol-
gen der Ukraine-Krise auf die Einbettung Russlands in die Weltwirtschaft. Angesichts limitierter Investiti-
onsspielräume droht nun eine Phase der Stagnation. Einige Wirtschaftsakteure üben Kritik an der aktuellen
wirtschaftlichen Ausrichtung, etliche heimische und ausländische Akteure setzen noch auf eine rasche Er-
holung. Daher sind die Folgen einer »säkularen Stagnation« nicht zu unterschätzen.
Die russische Wirtschaft im Abwärtstrend ist Russland seit 2014 fast komplett ausgeschlossen; lau-
Das Wirtschaftswachstum Russlands war schon vor fende Auslandsschulden der Firmen und Banken werden
2014 und 2015 in einem Abwärtstrend. Letzterer hat zurückgezahlt. Der Anteil neuer Großgeschäfte mit Russ-
seine Ursachen im Zusammenspiel zahlreicher struktu- land-Bezug auf dem globalen Finanzmarkt, die einem
reller Faktoren. Zu nennen sind die Grenzen des auf Roh-
stoffexport basierenden Wachstumsmodells, ein gemes- Grafik 2: Russische Wachsstumsschwäche begann
sen am institutionellen Umfeld hoher Wohlstand, eine bereits vor dem Ukrainekonflikt
gescheiterte Modernisierung, begrenzte Entfaltungs-
räume des privaten Sektors, eine ineffiziente regionale 12 80
Faktorallokation bzw. Verspannungen am Arbeitsmarkt, 9 60
zu hohes Lohnwachstum in Relation zum Produktivi- 6 40
tätsfortschritt sowie zu geringe Investitionen bei hohem 3 20
Kapitalexport. Angesichts solcher Barrieren und Limi- 0 0
tationen hat sich Russland in den letzten Jahren von
-3 -20
anderen großen aufstrebenden Ökonomien abgekop-
-6 -40
pelt. Verstärkt wird dieser Trend nun durch nicht zu
-9 -60
unterschätzende unmittelbare und mittelbare Auswir-
-12 -80
kungen der Ukraine-Krise auf die Einbettung Russlands
in die Weltwirtschaft.
Grafik 1: Russlands globale wirtschaftliche Bedeutung Ölpreisänderung (Prozent ggü. Vorjahr)
BIP- Veränderung (Prozent ggü. Vorjahr)
6,0
5,0
O Bis zur Finanzkrise 2008/2009: Starkes Wachstum; O Be-
4,0 reits 2012/2013: Wachstumsschwäche trotz hoher und stabiler
Ölpreise über 100 Dollar; * Q2 2015 Schätzungen der Autoren
3,0
Quelle: Reuters, Rosstat, RBI/Raiffeisen RESEARCH
2,0
2 4 6 8 0 2 4 6 8 0 2 4 6 8 0
9 9 9 9 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 2 breiten Investorenkreis angeboten werden, hat 2015 ein
9 9 9 9 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
1 1 1 1 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 Allzeit-Tief erreicht. Investoren ziehen sich nach Jahren
Russland Anteil am globalen BIP (%)* der Öffnung aus russischen Staatsanleihen zurück. Ger-
man Gref, Geschäftsführer der »Sberbank«, hat die Lage
Deutschland Anteil am globalen BIP (%)*
auf dem Petersburger Wirtschaftsforum schonungslos
* gerechnet zu Kaufkraftparitäten benannt. Er erklärte: Der Zugang zu westlichen Finanz-
märkten ist für Russland essentiell, und asiatische Finanz-
Quelle: IWF, RBI/Raiffeisen RESEARCH
märkte bieten auf kurze und mittlere Sicht keine hinrei-
Derzeit brechen internationale Bankfinanzierungen chenden Optionen. Er sieht sein Land nun in einer harten
mit Russland-Bezug ebenso stark ein wie in der Krise Anpassungsphase. Zudem legen Studien über Effekte
2008/2009, allerdings in einem nun deutlich besseren von Sanktionen nahe (siehe die Beispiele Südafrika und
globalen Umfeld. Von internationalen Finanzierungen Iran), dass die derzeitigen Entwicklungen in Russland
RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 3
Grafik 3: Russland: Internationale grenzüberschreiten- rie eine sogenannte »säkulare Stagnation« drohen. Solch
de Bankfinanzierungen (Mrd. US-Dollar)* ein Szenario ohne oder mit nur schwachem Wachstum,
bei niedriger bzw. moderater Inflation und niedrigen
240
Realzinsen, ist in geschlossenen Ökonomien mit rela-
220
tiv hohem Pro-Kopf-Einkommen möglich. Reale BIP-
200
Zuwachsraten von unter zwei Prozent stellen in einer
180
Ökonomie wie Russland gleichsam eine Stagnation dar.
160
Zuwachsraten dieser Ordnung – weit unter den vom
140
Präsidenten auf dem Petersburger Wirtschaftsforum
120
in den Raum gestellten und anvisierten 3,5 Prozent
100
an mittelfristigem Zuwachs – reichen nicht aus, um
80
im Vergleich zu anderen aufstrebenden Ländern, aber
60
8 9 0 1 2 3 4 auch zu den Industrienationen, den Wohlstand anzuhe-
0 0 1 1 1 1 1
n n n n n n n ben. Russlands Pro-Kopf-Einkommen zu Kaufkraftpa-
a a a a a a a
J J J J J J J
ritäten könnte so auf mittlerem Niveau, bei 65 Prozent
* alle weltweit an die BIS berichtende Bankensektoren der EU bzw. 55 Prozent des Niveaus in Deutschland,
Quelle: Bank für Internationalen Zahlungsgleich (BIZ), RBI/ »steckenbleiben«. Unterstützt wird das Szenario einer
Raiffeisen RESEARCH
»säkularen Stagnation« von der Tatsache, dass kaum
erst der Beginn der negativen Folgen von länger anhal- Wachstumstreiber in Sicht sind und aktuelle wirtschafts-
tenden Sanktionsregimen sind, vor allem auf die Investi- politische Strategien wenig nachhaltige Wachstumsim-
tionstätigkeit. Zudem nimmt Umfragen zufolge die Hoff- pulse versprechen.
nung auf ein baldiges Ende der westlichen Sanktionen
zusehends ab. Dies passt zu empirischen Studien, wel- Rohstoffboom und Modernisierung über
che eine lange Dauer von Sanktionsregimen (vor allem Megaprojekte kaum wiederholbar
gegen große Länder) nahelegen. In das Gesamtbild fügen In der letzten Dekade profitierte Russland von einem
sich die jüngsten Sanktionsverlängerungen ein (durch globalen »Rohstoffsuperzyklus«, der den Ölpreis von
die EU um sechs Monate, auf russischer Seite gleich um 10–20 US-Dollar auf über 100 Dollar trieb, sowie von
12 Monate). einem Ausblick auf unbegrenzten Rohstoffhunger der
aufstrebenden Volkwirtschaften. Beide Megatrends
Grafik 4: Internationale Kapitalmarktfinanzierungen haben sich abgeschwächt, der Ölpreis sollte sich ange-
mit Russland-Bezug (Milliarden US-Dollar) sichts aktueller Markttrends und Prognosen nur moderat
erholen bzw. in den kommenden Jahren um Niveaus von
60
60–80 US-Dollar pendeln. Ohne fortwährende massive
50 Rohstoffpreissteigerungen liegt das geschätzte Wachs-
tumspotenzial der russischen Wirtschaft bei 1–2 Pro-
40
zent. Die mittelbaren fiskalischen Implikationen eines
30
solchen Szenarios ohne Rohstoffpreisboom dürfen eben-
20 falls nicht unterschätzt werden. Dies vor allem vor dem
Hintergrund der vorherrschenden fiskalischen Ideolo-
10
gien. In Russland gibt es aufgrund der Erfahrungen
0
der 1990er Jahre eine ideologische Abneigung gegen-
3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 *
00 00 00 00 00 00 00 01 01 01 01 01 15 über hohen schuldenfinanzierten Defiziten sowie der
2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 0
2 Monetisierung von Staatsschulden (also »Staatsschul-
* 2015er Zahlen annualisierte Daten für das erste Quartal 2015 denfinanzierung durch die Notenpresse«). Damit ist
Quelle: Bloomberg, RBI/Raiffeisen RESEARCH eine schuldenfinanzierte Ausgabenpolitik – angesichts
der Staatschulden von 12 Prozent des BIP gäbe es Spiel-
Strukturelle Limitationen, eine derzeit zurückgehende raum – unwahrscheinlich. Der Staat verfügt sogar noch
Einbettung in globale Kapitalströme sowie sich ver- über fiskalpolitische Puffer in Form von zwei Reserve-
schlechternde Erwartungen in Bezug auf eine solide fonds (in die Haushaltsüberschüsse aus dem Rohstoff-
Wirtschaftsentwicklung legen nahe, dass Russland auf boom auf die Seite gelegt werden) in Höhe von 9 Pro-
eine Stagnation zuläuft, sollten die Rahmenbedingun- zent des BIP. Um die fiskalischen Puffer allerdings in
gen unverändert bleiben. Nach der aktuellen Rezes- einem nennenswerten Umfang zu erhalten, sollten diese
sion kann dem Land gemäß der ökonomischen Theo- nicht über das in der Krise 2014/2015 vorgesehene Volu-
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men von bis zu 4–5 Prozent des BIP hinaus angezapft talpuffern. Auch das Einlagenwachstum schwächt sich
werden. Die fiskalischen Puffer sind ein zentraler Anker, ab, was angesichts limitierter internationaler und ein-
um das Investorenvertrauen und die Länderrisikoein- heimischer Refinanzierung (ausgenommen Notenbank-
schätzung Russlands nicht noch weiter sinken zu lassen. finanzierung) ebenso den Spielraum begrenzt. Zudem
Angesichts der ideologischen und faktischen Limitatio- müssen sich viele russische Firmen nun auf dem ein-
nen sind die fiskalischen Optionen Russlands eindeu- heimischen Markt in Rubel finanzieren. Hier sind die
tig begrenzt, was den Wachstums- und den staatlichen Zinsen höher als auf den internationalen Märkten. Der
Investitionsspielraum einengt. Dies gilt auch für soge- Prozess des internationalen Schuldenabbaus bzw. der
nannte »Leuchtturm-« oder Megainvestitionsprojekte, Substitution durch inländische Finanzierung – soweit
mit denen bisher versucht wurde, die Investitionstätig-
keit zu stützen, die im Vergleich zu erfolgreichen auf- Grafik 5: BIP-Wachstum vs. Kreditwachstum (%)
strebenden Ökonomien bei niedrigen 20 Prozent des
BIP liegt.
55%
Verschuldung im Privatsektor nicht mehr
35%
niedrig – Deleveraging angelaufen1
Lange war der Bankensektor ein Katalysator des Wachs- 15%
tums in Russland. Über eine Dekade lang haben die
Kredite viel stärker zugelegt als die Wirtschaftsleistung, -5%
9012345678901234
die Relation »Kredite zu BIP« stieg von 2000 bis 2014 – 9000000000011111
9000000000000000
1222222222222222
auch in Zeiten starken BIP-Wachstums – von ca. 10 auf
Kreditwachstum (% gg. Vorjahr)
60 Prozent an. Solch ein Anstieg des Verschuldungsgra-
des, ausgehend von einem niedrigen Niveau, wirkt sich Nominales BIP-Wachstum (% gg. Vorjahr)*
durch Rückkoppelungseffekte positiv auf das Wachstum
* Reales BIP-Wachstum + Konsumentenpreisinflation
aus. Hohes Kreditwachstum kann so kurz- bis mittelfris-
Quelle: nationale Quellen, CBR, Weltbank, RBI/Raiffeisen
tig ein BIP-Wachstum unterstützen – auch über Poten-
RESEARCH
zialwachstum, wie in Russland in den letzten Jahren.
Die in so einem Prozess vergebenen Kredite sind aber möglich – erklärt auch, warum die Auslandschulden
immer eine Wette auf eine weiterhin positive Zukunft. des privaten Sektors derzeit fallen, während die Schul-
Insofern stellen die negative Wirtschaftsentwicklung der den bei heimischen Banken noch zunehmen. Allerdings
letzten Quartale sowie der schwache Ausblick Kredit- sind bei lokal vergebenden Krediten die Laufzeiten kür-
nehmer und -geber kurz- und mittelfristig vor Heraus- zer, was vor allem Projekt- und Investitionsfinanzie-
forderungen. Und durch den starken Anstieg der Kre- rungen erschwert. Dies ist im aktuellen Umfeld weni-
dite seit dem Jahr 2000 kann Russland nun nicht mehr ger problematisch, aber mittelfristig ein Engpassfaktor.
als Volkswirtschaft mit niedriger Finanzintermediation Insgesamt wird der russische Bankensektor unter den
gelten. Des Weiteren sind angesichts der Rubelschwäche aktuellen Rahmenbedingungen kaum einen Anschub
bei Fremdwährungskrediten Kreditschuld und Rück- zu solidem Wirtschaftswachstum geben können. Ange-
zahlungsraten gestiegen. Angesichts des Anstiegs von sichts zunehmender Herausforderungen agieren auch in
Zinsen und Risikoprämien auf dem russischen Banken- Russland tief verwurzelte westliche Auslandsbanken vor-
markt lässt sich nun ohnehin nur eine geringere Kredit- sichtig bzw. haben Expansionsstopps oder Reduktions-
last tragen. Der Spielraum zur Neukreditvergabe, ohne pläne angekündigt. Zumal 70 Prozent der Bankaktiva
hohe Kreditrisiken, ist damit fundamental limitiert. Es einen Moskau- und St. Petersburg-Bezug haben und
könnte sogar eine Phase bevorstehen, in der die Kredite die aktuelle und erwartete Wirtschaftslage für die dort
geringer zulegen als die Wirtschaftsleistung. ansässigen wohlhabenderen Privatkunden und oft inter-
Des Weiteren kämpfen russische Banken mit weiteren national tätigen Firmenkunden besonders hohe Heraus-
kurzfristigen Limitationen. Die Marktturbulenzen der forderungen mit sich bringt.
letzten Monate sowie die rapide steigende Menge not-
leidender Kredite zehren an Rücklagen und Eigenkapi- Explizite »Weichwährungspolitik« keine
Option
1 Deleveraging – von Banken oder Unternehmen vorgenom- Empirisch gesehen waren viele Ökonomien (Indus-
mene Substitution von Fremdkapital durch Eigenkapital bzw.
trie- oder Entwicklungsländer) erfolgreich, die ihren
die Reduktion von Fremdkapital, wodurch eine Verminderung
Exportsektor bzw. dessen preisliche oder qualitative
der Verschuldungsposition (Leverage) und damit des eingegan-
genen Risikos erreicht wird; d. Red. Wettbewerbsfähigkeit gezielt gestützt haben. Vor allem
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der nominale bzw. reale Wechselkurs ist eine zentrale sche Wirtschaftsakteure. Wie bereits beschrieben, treibt
Stellschraube der preislichen Wettbewerbsfähigkeit, die eine zu starke und rasche Rubelabwertung so (bei noch
zudem rasch wirken kann. Diesen Ansatz hat Russland
im Boom vor 2008 verfolgt, als die Behörden versuch- Grafik 6: Reale Wechselkursentwicklung stark vom
ten, den Rubel nicht zu stark werden zu lassen, um die Ölpreis getrieben
sogenannten »holländische Krankheit« zu vermeiden.
Insofern hat die massive nominale Rubel-Abwertung 160
der letzten 12–18 Monate um kumuliert 30 Prozent die 140
Wettbewerbsfähigkeit erhöht. Der reale Wechselkurs, 120
100
der von 2009 bis 2013 um 20 Prozent angestiegen war,
80
ist um 30 Prozent gefallen, was ihn auf das Niveau von
60
2005 zurückwirft. Daher ist es kein Zufall, dass einige
40
heimische oder internationale Produzenten, die bisher
20
auf den Heimatmarkt fokussiert waren, sich nun im
0
Export versuchen. Einigen internationalen Investoren
2 4 6 8 0 2 4 6 8 0 2 4
9 9 9 9 0 0 0 0 0 1 1 1
ist es gelungen, beim aktuellen Rubelkurs erfolgreich n n n n n n n n n n n n
u u u u u u u u u u u u
aus Russland heraus zu exportieren. Daher ist es nach- J J J J J J J J J J J J
vollziehbar, dass die Notenbank sich unlängst gegen Rohölpreis (US Dollar per Barrel)
eine zu starke Rubel-Erholung stemmte. Der preisliche
Realer handelsgewichtet. Wechselkurs (VPI basiert, 2005=100)
Entlastungseffekt durch die nominale Rubel-Abwertung
sollte aber auch nicht überschätzt werden. Der durch Realer Wechselkurstrend (4,5 % Anstieg ggü. Vorjahr)
die Abwertung ausgelöste Inflationsanstieg schlägt par-
Quelle: Reuters, OECD, BIS, Raiffeisen RESEARCH
tiell auf die Nominallöhne durch, so dass der Rubel real
wieder aufgewertet wird und Russland also wieder etwas vorhandenen substantiellen Importabhängigkeiten) auch
an preislicher Wettbewerbsfähigkeit einbüßt. die Inflation und Lohnentwicklung nach oben. Insofern
Mittelfristig könnten neben Exporteuren auch offi- müssten erst die Importabhängigkeiten substanziell redu-
zielle Akteure ein Interesse an einem schwachen Rubel ziert werden, um mehr Abwertungsspielraum zu schaffen.
haben. Der Staatshaushalt und einige staatsnahe Fir-
men profitieren tendenziell von einer moderaten Rubel- Importsubstitution mit wenig
schwäche, da hier ein Großteil der Einnahmen fremd- Wachstumspotenzial
währungsabhängig ist, auf der Ausgabenseite aber der Derzeit gibt es einen politischen Hype um die soge-
Rubel dominiert. Ein schwächerer Rubel vermindert nannte Importsubstitution, die allerdings auch aus
auch bei niedrigeren Energiepreisen Einnahmeverluste der Not geboren ist. Ölpreisverfall, Rubelabwertung,
»auf dem Papier«, so dass Staatsausgaben (z. B. Sozial- erschwerter Kapitalmarktzugang, Sanktionen und
ausgaben) weniger stark sinken müssen, als wenn der Gegensanktionen belasten die Importe ohnehin mas-
Ölpreiseffekt voll durchschlagen würde. Die Möglich- siv. Die Importe sind in den ersten Monaten in 2015
keit, vordergründig Transfereinkommen hoch zu hal- um 35–40 Prozent zurückgegangen. Zudem lässt sich
ten ist im aktuellen politischen Setting von besonde- der Fokus auf die Importsubstitution auch damit erklä-
rer Bedeutung. Die Staatsmittel verlieren aufgrund der ren, dass so westlichen Firmen eine sinkende Markt-
Kursschwäche und der höheren Inflation allerdings an präsenz droht.
Kaufkraft, so dass eine Ausgabenkürzung durch die Bis zu einem gewissen Grad ist die Debatte um
Hintertür erfolgt. Importsubstitution positiv. So wird eine aktivere
Zudem haben die letzten Monate die Risiken eines Industriepolitik gefördert. Allerdings ist der Fokus auf
schnellen und starken Rubelverfalls für das Vertrauen, Importsubstitution auch kritisch zu beurteilen. Ein-
das Investitionsklima und vor allem für den Bankensek- griffe zum Schutz einheimischer Firmen können »nur«
tor aufgezeigt. Bei größeren Privatbanken machen die auf dem (begrenzten) Heimatmarkt zu verbesserten
US-Dollarkredite etwa 40 Prozent der Kredite aus, bei Bedingungen führen. Letzteres ist der Kern des soge-
den großen Staatsbanken sind es immerhin knapp über nannten »Infant Industry«-Arguments, erscheint aber
20 Prozent. Insofern erscheint eine Ausrichtung, die auf angesichts des schwachen Wirtschaftsausblicks in Russ-
eine prononcierte »Weichwährungspolitik« abzielt, wenig land wenig attraktiv. Eine Importsubstitutionsstrate-
zielführend. Sie bringt in einer teilweise dollarisierten gie erscheint daher derzeit weniger erfolgsversprechend
und von Kapital- und Konsumgüterimporten abhängi- als etwa eine Exportförderungsstrategie. Des Weiteren
gen Ökonomie wie Russland auch Nachteile für heimi- ist zu hinterfragen, warum im Kontext einer staatszen-
RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 6
trierten Importsubstitution in Russland nun Investitio- dings verspricht die Hinwendung nach Asien, kein mas-
nen getätigt werden sollen, die vorher nicht erfolgten. siver Wachstumstreiber für Russland zu sein. Es geht
Ohne massive Investitionen ist eine umfassende Import- eher um eine strukturerhaltende Umlenkung bei Ener-
substitution – besonders außerhalb des Agrarbereichs – gieexporten von Westeuropa nach Asien (soweit tech-
angesichts der bereits hohen Auslastung bestehender nisch und wirtschaftlich möglich), als um die Erschlie-
Kapazitäten sowie der zunehmenden Überalterung des
Kapitalstocks aber unrealistisch. Im Sinne der faktischen Grafik 7: Rezession trifft die meisten Industriebran-
Limitationen für eine umfassende Importsubstitution ist chen (Veränderung in Prozent, ggü. Vor-
zu betonen, dass bisher etwa 40 Prozent der russischen jahreszeitraum)
Importe westliche Maschinen/Anlagen bzw. Techno-
logie darstellten, die kurz- bis mittelfristig schwer sub- Industrieproduktion (gesamt) -2,2
darunter:
stituierbar sind. Ohne tiefgreifende Strukturreformen
Verarbeitendes Gewerbe (gesamt) -4,3
und eine Verbesserung des Investitionsklimas erscheint darunter:
Lebensmittel
eine Importsubstitution insgesamt kaum erfolgsverspre- 0,9
Textilprodukte
-19,3
chend. In Japan und Südkorea konnte eine Importsub- Leder
-19,8
stitution auf Boom-Märkten und bei Strukturreformen Holz -2,3
Papier und Druck
-14,7
positive Effekte erzeugen, während viele lateinamerika- Mineralölerzeugnisse
1,2
nische Länder – ohne Reformen – mit solchen Strate- Chemieerzeugnisse 8,8
Gummi und Plastik
gien wenig erfolgreich waren bzw. langfristig stagnierten. -4,0
Nicht-metallische Mineralprodukte
-4,2
Metalle und Metallprodukte
-6,1
Investitionsklima und internationales Maschinen- und Anlagenbau -14,1
Elektrotechnik
Investorenvertrauen am Boden -9,1
Transportmittel
-14,8
Den zuvor genannten Strategien (Importsubstitution Anderes-19,9
oder Exportförderung) ist gemein, dass sie Finanzie- -25 -20 -15 -10 -5 0 5 10 15
2013 (Gesamtjahr)
rung und Investitionen erfordern. Hier geht es um ein- 2014 (Gesamtjahr)
2015 (Jan-Mai, zum Vorjahreszeitraum)
heimische Investitionsaktivität und/oder Ausländische
Direktinvestitionen (ADI). Gefördert werden kann eine
Quelle: Reuters, Rosstat, RBI/Raiffeisen RESEARCH
Importsubstitution eben auch durch den Eintritt auslän-
discher Akteure in den Markt bzw. Kapital- oder Know- ßung neuer Märkte mit neuen Exportprodukten. Eher
how-Transfer im Rahmen von Joint Ventures. Auch scheint es, dass China weiter erfolgreich seinen Anteil
für eine Exportförderung sind ADI oder Joint Ventu- an den Importen in Russland ausbauen wird, was kein
res meistens ein zentrales Element. Allerdings befindet Wachstum für Russland bedeutet und nur begrenzte
sich derzeit die Einschätzung des Investitionsklimas Möglichkeiten der Substitution von westlichen Tech-
durch einheimische oder internationale Akteure, auch nologien bietet. Und trotz aller Bekundungen ist das
durch solche, die in Russland schon lange präsent sind, derzeitige Engagement Chinas in Form von bereits vor-
auf einem Tiefpunkt. Vor allem bei den ausländischen handenen ADI oder der Präsenz chinesischer Banken
Akteuren ist eine schnelle Kehrtwende unwahrschein- vor Ort im Vergleich zum Engagement westlicher und
lich. Die Dominanz macht- und geopolitischer Darle- vor allem westeuropäischer Firmen bescheiden. Auf
gungen über wirtschaftspolitische und pragmatische dem russischen Bankenmarkt betragen die bisherigen
Überlegungen hat viel Vertrauen und Planbarkeit zer- Engagements chinesischer Banken etwa 2–3 Prozent der
stört. Diese Stimmung steht ganz klar im Gegensatz Aktiva der großen westlichen Banken. Angesichts sol-
zur Situation in der Krise von 2008/2009, wo das Han- cher Dimensionen kann ein verstärktes Engagements
deln des russischen Staates von Wirtschaftskreisen im Chinas vorerst – in einem eher optimistischen Szena-
In- und Ausland als sinnvoll und ökonomisch pragma- rio –vorsichtigere Engagements westlicher Akteure nur
tisch angesehen wurde. partiell kompensieren, was noch keine Wachstumsim-
pulse impliziert.
Eurasische Wirtschaftsunion und
Integration mit Asien als Wachstumstreiber? Stagnation wahrscheinlichstes Szenario
Genauso wie um die Importsubstitution gibt es der- Angesichts der Gesamtlage ist – im aktuellen institu-
zeit einen Hype um eine prononciertere Ausrichtung tionellen Rahmen – eine längere Stagnation das wahr-
nach Asien. Letztere spielt nun in offiziellen Darstel- scheinlichste Szenario, zumal es Indikatoren gibt, dass
lungen eine größere Rolle als vorige Bestrebungen zur sich die Politik mit solch einem Szenario anfreunden
Etablierung einer Eurasischen Wirtschaftsunion. Aller- kann. Von offizieller Seite wurde auf dem Petersburger
RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 7
Wirtschaftsforum betont, dass trotz schwacher Zahlen tung und die hohe Inflation haben einen massiven Rück-
die »innere Stärke« der russischen Wirtschaft wachse, gang des Konsums, der Importe und damit des externen
was plumpe Autarkieüberlegungen widerspiegelt. Präsi- Finanzierungsbedarfs zur Folge. Sorgen um die makro-
dent Putin glänzte in Petersburg eher mit für viele Wirt- finanzielle Stabilität Russlands bzw. um die Devisenre-
schaftsakteure enttäuschenden Durchhalteparolen als serven haben somit abgenommen. Bei einem Einbruch
des Konsums um sechs Prozent in diesem Jahr und der
Grafik 8: Die EU bleibt auf absehbare Zeit der wich- Investitionen von knapp zehn Prozent und einer Sta-
tigste Absatzmarkt für russische Exporte gnation dieser Kenngrößen im nächsten Jahr liegen die
(Anteil der Warenexporte in Prozent) Importe Russlands 2015 und 2016 in US-Dollar gerech-
net bei ca. 200–230 Milliarden, 2011 bis 2013 waren es
60 im Schnitt 330 Milliarden. Damit sind die Importe um
35–40 Prozent eingebrochen, während der Export »nur«
50
um 25–30 Prozent eingebrochen ist, so dass sich der
40 Handelsbilanzüberschuss stabil hält. Auf einem gerin-
gen Niveau der Importe und Investitionen kann Russ-
30
land so deutlich länger von seinen Reserven leben als
20 zuvor. Daher trägt aktuell und wohl auch in den kom-
menden Jahren vor allem der private Sektor die Haupt-
10
last der gesamtwirtschaftlichen Schwäche Russlands.
0
199719992001200320052007200920112013 Erhebliche wirtschaftspolitische Fragezeichen
USA EU Der schwache Wirtschaftsausblick sowie die skizzierten
wirtschaftspolitischen Dilemmata resultieren in einer
Deutschland GUS
erheblichen mittelfristigen wirtschaftspolitischen Unsi-
China Andere cherheit. In den Jahren 2016 und 2017 kann die Fiskal-
politik weniger stützend wirken als noch in 2014 und
Quelle: Reuters, Rosstat, RBI/Raiffeisen RESEARCH
2015. Will die Regierung das Ziel eines relativ ausgegli-
chenen Haushaltes weiter verfolgen, wird dies erhebli-
durch Anerkennung der Reformbaustellen und Restrik- che Ausgabenanpassungen in den Jahren 2016 und 2017
tionen. Es scheint so zu sein, dass die westlichen Sank- erfordern, was politisch herausfordernd sein wird. Daher
tionen eine opportune Entschuldigung für Strukturpro- gibt es trotz aktuell geringerer Risiken im Sinne der
bleme sind. Zumal eine »säkulare Stagnation« besonders makrofinanziellen Stabilität Investorensorgen in Bezug
die an ein stärkeres Wachstum gewöhnte Mittelschicht auf die Stabilitätsorientierung in der Fiskal- bzw. Wirt-
und – solange der Sozialstaat finanziert werden kann – schaftspolitik. Des Weiteren könnte es steigenden Druck
weniger die Transferempfänger bzw. die unterentwickel- auf weitere Akteure geben, etwa die Notenbank oder
ten Landesteile (die traditionelle Stützen des politischen große staatsnahe Geschäftsbanken, damit diese mit einer
Systems) treffen würde bzw. so teils erhebliche regionale »Wachstumsagenda« die Regierung unterstützen. Bei
soziale Diskrepanzen schrumpfen lassen könnte. nicht adäquaten strukturellen Voraussetzungen könn-
Die Implikationen einer »säkularen Stagnation« soll- ten so neue Risiken entstehen. Zudem könnte so ein
ten allerdings auch nicht unterschätzt werden. Noch set- Teil der graduellen institutionellen und wirtschaftspoli-
zen viele Wirtschaftsakteure auf das »ewig« wirkende tischen Fortschritte der letzten Jahre zu Nichte gemacht
Potenzial Russlands als einer sich nach einem Schock werden, etwa die Flexibilisierung des Wechselkurses, die
rasch erholenden Ökonomie. Historisch wäre nach der Stärkung der Notenbank als unabhängiger Akteur oder
Rezession von 2015 ein solcher sogenannter »Rückprall- die Öffnung der Kapitalmärkte.
effekt« zu hohem Wachstum (ausgehend von niedrigem Angesichts des schwachen Ausblicks sowie der wirt-
Niveau) zu erwarten. Allerdings haben sich solche Ent- schaftspolitischen Fragezeichen, ist es nicht verwunder-
wicklungen in Russland immer unter anderen Umfeld- lich, dass die Investitionstätigkeit inländischer und inter-
bedingungen als den derzeitigen vollzogen. Angesichts nationaler Akteure in Russland darnieder liegt. Vor allem
noch vorhandener Hoffnungen auf einen Rückprallef- ausländische Investoren agieren derzeit in für sie attrak-
fekt kann eine Phase der länger andauernden Stagnation tiven heimischen Sektoren – wie der Automobilbranche,
damit mehr Potenzial zur Unzufriedenheit haben, als den Banken oder dem Einzelhandel – vorsichtig und fah-
es derzeit erscheint. Zumal 2014 und 2015 der private ren Engagements eher zurück. Solche Prozesse basieren
Sektor das Gros der Anpassung trägt. Die Rubelabwer- bis dato »nur« auf deutlich negativeren Planungen für
RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 8
den heimischen Markt bzw. die Kaufkraft. Zudem wird her Akteure verbunden; etwa wenn die ökonomischen
der schwache gesamtwirtschaftliche Ausblick auch den Zwänge größer werden bzw. ein Rückfall Russlands hin-
Prozess des Aufholens der anderen Regionen Russlands ter andere aufstrebende Volkswirtschaften regionale und
im Vergleich zu Moskau und St. Petersburg abschwächen; geopolitische Ambitionen begrenzen sollte. Interessant
viele Geschäftsstrategien versuchten in den letzten Jahren ist in diesem Kontext die auf dem Petersburger Wirt-
diesen Trend auszuspielen. Nur im Energiesektor gibt es schaftsforum geäußerte Forderung von Ex-Finanzminis-
noch Neugeschäfte ausländischer Marktakteure in nicht ter Kudrin durch vorgezogene (Neu-)Wahlen (die wohl
sanktionierten Bereichen; allerdings ist für solche Trans- keine Änderungen an der Staatsspitze, wohl aber eine auf
aktionen der Binnenmarkt in Russland weniger relevant. der Ebene darunter bringen könnten) die Reformausrich-
Bei vielen, in Russland lange präsenten, westlichen tung zu stärken. Sollten sich noch vorherrschende mode-
Firmen, die auf den heimischen Markt ausgerichtet sind, rat optimistische Zukunftserwartungen in Bezug auf eine
wird aber noch kein materieller Rückbau des Russland- Rückkehr der ökonomischen Rationalität in das politi-
Engagements betrieben. Es gibt noch Hoffnung, dass ein sche Denken und Handeln in Russland allerdings nicht
wirtschaftspolitischer Pragmatismus zurückkehrt. Teils bestätigen, könnte dies zu einer noch kritischeren Sicht
werden solche Aussichten immer noch mit der Speku- bei heimischen und ausländischen Investoren führen.
lation auf einen erhöhten Machteinfluss wirtschaftsna-
Über die Autoren
Gunter Deuber leitet die Analyseabteilung Osteuropa für Volkswirtschaft und Bankensektoren bei der Raiffeisen Bank
International AG in Wien, einer der größten in Russland tätigen Auslandsbanken.
Andreas Schwabe ist Senior Economist bei der Raiffeisen Bank International AG in Wien.
Der vorliegende Beitrag repräsentiert die persönliche Auffassung der Autoren und nicht notwendigerweise die der
Raiffeisen Bank International.
Tabelle 1: Wichtige Wirtschaftsindikatoren und Wirtschaftsprognosen
2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015e 2016f
BIP (EUR Mrd.) 880 1.150 1.370 1.560 1.560 1.400 1.230 1.360
BIP/Kopf (EUR) 6.200 8.000 9.600 10.900 10.900 9.700 8.600 9.500
Reales BIP (% p.a.) -7,8 4,5 4,3 3,4 1,3 0,6 -4,0 0,5
Priv. Haushalte (% p.a.) -5,1 5,5 6,8 7,9 4,7 1,9 -6,0 1,0
Anlageinvestitionen (% -14,4 5,9 9,1 6,6 1,4 -2,5 -8,0 0,0
p.a.)
Industrieproduktion (% p.a.) -9,3 8,2 4,7 2,6 0,3 1,7 -4,0 1,0
Verbraucherpreise (Dez, p.a.) 8,8 8,8 6,1 6,6 6,5 11,4 11,5 8,0
Verbraucherpreise 11,8 6,9 8,5 5,1 6,8 7,8 15,2 7,5
(Jahresschnitt, p.a.)
Arbeitslosenquote (%) 8,4 7,5 6,6 5,7 5,6 5,3 6,5 6,5
Öffentl. Budgetsaldo (% -6,3 -3,5 1,6 0,4 -1,0 -1,0 -4,2 -3,0
BIP)
Öffenl. Schulden (% BIP) 8,3 9,3 10 11 11,3 11,5 12,5 13,5
Leistungsbilanzsaldo (% 4,1 4,4 5,1 3,6 1,6 3,5 3,7 2,7
BIP)
Direktinvestitionen (netto, -0,5 -0,6 -0,6 0,0 -0,5 0,0 -0,7 0,0
% BIP)
Währungsreserven (Dez, 291,0 331,0 350 369 343 279 329 353
EUR Mrd.)
Aussenschuld (Dez, brutto, 37,1 31,7 30 31 33,8 35,4 37,7 31,6
% BIP)
EUR/LCY (Jahresschnitt) 44,1 40,3 40,9 39,9 42,3 51,0 64,4 64,6
USD/LCY (Jahresschnitt) 31,7 30,4 29,4 31,1 31,9 38,6 58,0 59,3
Quelle: Reuters, Rosstat, Russische Zentralbank, Raiffeisen RESEARCH
RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 9
ANALYSE
Inlandsinvestitionen und »deofschorisazija« – ein Paradigmenwechsel in der
russischen Finanzpolitik?
Ewa Dąbrowska, Amsterdam/Berlin
Zusammenfassung
Putins zunehmend anti-westliche Ideologie zeigt sich auch in der Wirtschaftspolitik. Seit 2012 fördert die
russische Regierung verstärkt Investitionen aus inländischen Kapitalquellen und versucht, russisches Kapi-
tal aus Steueroasen in das nationale Wirtschaftssystem zurückzuholen. Beide Maßnahmen sind angesichts
der Krise 2008/2009 sowie der derzeitigen Krise vordringlicher geworden, zeigen aber bis jetzt nur mäßi-
gen Erfolg. Es ist unklar, ob diese Initiativen Putins darauf abzielen, russische Oligarchen »patriotischer« zu
machen, oder ob sie als Beruhigungsmaßnahme für die Bevölkerung und nationalistische Intellektuelle die-
nen, die in Russland zunehmend eine Deutungshoheit haben. Angesichts der engen Verflechtung der rus-
sischen Wirtschaft mit der globalen Wirtschaft (einschließlich des Netzwerks von Steueroasen) und ange-
sichts der Schwäche des russischen Finanzsystems werden diese Maßnahmen nicht leicht zu realisieren sein.
Rechte Ideen in der russischen Teil der Ölgewinne im Inland zu investieren. Auch ist sie
Wirtschaftspolitik scheinbar bemüht, das russische Kapital aus den Steuer-
Putins Präsidentschaft zeichnet sich seit 2012 durch oasen ins Inland zurück zu holen (russ.: »deofschorisa-
eine verstärkt anti-westliche und anti-liberale Rheto- zija« – »Ent-Offshorisierung«). Kann diese Politik ange-
rik und Politik aus. Diese ideologische Wende ist bis sichts der engen Verflechtung der russischen Wirtschaft
vor kurzem nicht konsistent mit Russlands wirtschaft- mit dem globalen Finanzsystem gelingen? Und trägt
licher Praxis gewesen, insbesondere mit der Politik der sie, als eine Folge der Wirtschaftskrisen, zur Abschot-
führenden Konzerne, wie vor allem nationalistische tung des russischen Finanzsystems im Sinne der patrio-
Akteure immer wieder betonten. Zum rechten Lager tischen Eliten bei?
der russischen Politik gehören unter anderem Abgeord-
nete der Kommunistischen Partei, der »Liberal-Demo- Einbindung der russischen Wirtschaft in
kraten« von Schirinowskij sowie der von Rogosin und das globale Finanzsystem
Glasjew reaktivierten Partei »Rodina«, Intellektuelle Die Einbindung der russischen Wirtschaft in die globale
des »Isborskij Klub« sowie mit ihnen sympathisierende Ökonomie lässt sich am besten anhand der Struktur der
Teile des russischen Militärs, des militärisch-industriel- internationalen Finanzströme demonstrieren. Aufgrund
len Komplexes, der Geheimdienste und anderer staatli- des kapitalschwachen nationalen Finanzmarktes waren
cher Strukturen. »Einiges Russland« und die Präsidial- expansionswillige russische Großunternehmen auch in
administration repräsentieren zwar einen »zentristischen der Ölboom-Periode 2000–2008 gezwungen, finan-
Nationalismus«, haben aber in den letzten Jahren viele zielle Ressourcen aus dem Ausland zu beziehen. Sie nah-
Deutungsmuster von nationalistisch denkenden Eliten men Kredite bei ausländischen Banken auf, verkauften
übernommen. Russische Oligarchen galten in ihrem ihre Anleihen an ausländische Investoren und führten
Diskurs schon lange als Verräter nationaler Interessen. Börsengänge an internationalen Finanzbörsen durch.
Die Tatsache, dass Oligarchen ihre Gewinne im Aus- Diese Dynamik führte dazu, dass die private Auslands-
land, bevorzugt in Steueroasen, anlegen, statt sie in Russ- verschuldung der russischen Wirtschaft wuchs, paral-
land zu investieren, wurde heftig kritisiert. Das galt lel zu den Bemühungen der russischen Regierung, die
besonders für Gewinne aus dem Rohstoffgeschäft, da staatlichen Schulden zurückzuzahlen. So betrug im Jahr
natürliche Ressourcen im »patriotischen« Diskurs als 2006 die Auslandsverschuldung der russischen Banken
nationaler Reichtum gelten, von dem das ganze Volk und Unternehmen 261,9 Mrd. US-Dollar, 2007 bereits
profitieren sollte. Aus dem gleichen Grund sorgte die 424,7 Mrd. und 448,3 Mrd. US-Dollar im Jahr 2008.
seit 2004 betriebene Politik der russischen Regierung, Bezeichnenderweise waren staatliche oder halbstaatli-
Überschüsse aus dem Ölgeschäft in Form von staatli- che Konzerne, wie z. B. »Gazprom«, »Rosneft«, die Rus-
chen Ölfonds in westlichen Staatsanleihen anzulegen, sischen Eisenbahnen RZD, »Transneft«, »VTB« und
für einen Aufschrei, nicht zuletzt in den regierungs- »Sberbank« für bis zu 75 % dieser Summe verantwort-
treuen Medien. lich. Diese Summe entsprach in etwa dem Volumen der
Seit 2012 reagiert die russische Führung auf Forde- ausländischen Reserven, die von der Russischen Zen-
rungen der nationalistischen Akteure, zumindest einen tralbank gehalten wurden, einschließlich des Stabilisie-
RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 10
rungsfonds: Im Jahr 2006 betrugen diese 303,7 Mrd. den Steuern auf Ölgewinnung (Steuer auf die Förderung
US-Dollar, 2007 bereits 476,4 Mrd. und 2008 lagen sie von Bodenschätzen, russ.: NDPI) und aus Exportzöllen
bei 427,1 Mrd. US-Dollar (zur Entwicklung des Natio- im Stabilisierungsfonds akkumulierte, der 2008 in den
nalen Wohlfahrtsfonds siehe die Grafik auf S. 12). Die »Reservefonds« und den »Fonds der Nationalen Wohl-
Reserven wurden wiederum in ausländischen Staatsan- fahrt« aufgeteilt wurde. Dieses Modell löste eine Kontro-
leihen angelegt oder in ausländischer Währung gehalten. verse in der russischen Gesellschaft aus, da der Eindruck
entstand, die Regierung verknappe künstlich das Geld
Erschwerter Zugang zu finanziellen in Zeiten des Überflusses. Dies geschah tatsächlich mit-
Ressourcen aus dem Ausland nach den hilfe einer Politik der sogenannten »Sterilisierung« (d. h.
Krisen 2008/2009 und 2014/2015 einer Reduzierung der nationalen Geldmenge um die
Die Finanzkrise 2008/2009 hat das oben beschriebene Summe der Öleinnahmen, die im Stabilisierungsfonds
makroökonomische Modell infrage gestellt, dem zufolge angelegt werden). Diese Gelder standen allerdings der
vor allem Regierung und Zentralbank die Stabilität des Wirtschaft in Krisenzeiten zur Verfügung, waren also
Finanzsystems aufrechterhalten, indem sie substantielle nicht vollkommen gelöscht, wie der Begriff der Sterili-
Reserven akkumulieren. In der zweiten Hälfte 2008 sation nahelegen würde.
waren ausländische Banken aufgrund ihrer eigenen ver- Sowohl die nationalistisch-konservativen Politiker,
schlechterten finanziellen Situation nicht mehr bereit, Ökonomen und Intellektuellen, als auch große Teile
die Kredite russischer Firmen zu verlängern und ver- der Wirtschaftselite und der Bürokratie forderten noch
langten ihre Rückzahlung. Daraufhin baten die russi- vor der Krise, den Stabilisierungsfonds (und später den
schen Oligarchen den Staat um Hilfe. Ein Rettungspa- FNW) für inländische Investitionen zu verwenden. Auf
ket wurde geschnürt, infolge dessen die Auslandskredite diese Forderungen ging Putin nur partiell ein, indem
von der russischen Entwicklungsbank »Vneshekonom- 2007 etwa ein Zehntel des Stabilisierungsfonds in den
bank« (VEB) aufgekauft wurden. Dafür wurden insge- neu entstandenen Entwicklungsinstitutionen – der Ent-
samt 50 Mrd. US-Dollar bereitgestellt. Doch nur rund wicklungsbank, der Staatskorporation »Nanotechnolo-
ein Viertel davon wurde genutzt. Nachdem sich die Lage gii« (heute: »Rosnano«) – und im Investitionsfonds ange-
auf den internationalen Finanzmärkten stabilisiert hatte, legt wurde. Als ähnlich kontrovers galt die Tatsache, dass
kehrte man jedoch erneut zum alten Modell zurück. Die die russische Wirtschaft massiv auf Offshore-Standor-
»private« Auslandsverschuldung betrug wiederum über ten beruhte, d. h. auf ausländischen Steueroasen. Off-
400 Mrd. US-Dollar. shore-Standorte werden nicht nur dazu genutzt, um dem
Erst die politische Krise 2014/2015 stellte diese Pra- Fiskus zu entfliehen, sondern auch, um Geld aus Kor-
xis auf die Probe. Gerade diejenigen Firmen, die am ruption und anderen illegalen Geschäften zu »recyclen«
meisten von ausländischen Krediten profitiert hatten, und im besten Falle als verkappte ausländische Investi-
wurden von westlichen Sanktionen getroffen, die nach tionen in die inländische Wirtschaft zurückzubringen.
der Krim-Annexion verhängt wurden. Darunter fan- Laut der Organisation »Global Financial Integrity« hat
den sich Unternehmen wie Gazprom, Rosneft, und Russland seit 2008 einen illegalen Abfluss von Kapital
Transneft und Banken wie die VTB, Sberbank, Gaz- von über 100 Milliarden US-Dollar jährlich verzeich-
prombank sowie Vneshekonombank, denen von nun an net (mit einem Maximum von 187 Mrd. im Jahr 2011)
der Zugang zu ausländischen Finanzmärkten verwehrt und damit im globalen Ranking nach China den zwei-
wurde. Obwohl viele dieser Firmen Tochtergesellschaf- ten Platz eingenommen.
ten im Ausland haben, die ihnen Ressourcen bereitstel- Nach der Krise 2008/2009 änderte sich zum Teil die
len können, bekamen sie Liquiditätsprobleme. Aus die- wirtschaftspolitische Orientierung der russischen Regie-
sem Grund beantragten sie daraufhin Gelder aus dem rung. Die Ölfonds wurden zwar angezapft, sowohl um
»Fonds der Nationalen Wohlfahrt« (FNW). die ausfallenden Haushaltsausgaben zu ersetzen, als auch
zur Stützung des Finanzmarktes und der Banken, aber
Eine Wende hin zu einer »patriotischen« es erfolgten nur wenig staatliche Investitionen. Erst die
Finanzpolitik? aktuelle Krise hat die russische Regierung dazu bewegt,
Auch die russische Finanzpolitik folgte in der Zeit des ein umfassendes, aus dem FNW finanziertes Investiti-
Ölbooms einem liberal-konservativen Modell: Die onsprogramm einzuleiten.
Regierung sparte einen Großteil ihrer Einnahmen oder
investierte sie. Trotz wachsender Staatsausgaben wurde Öffnung des »Fonds der Nationalen
jedes Finanzjahr mit einem Haushaltsüberschuss von bis Wohlfahrt«
zu 8 % abgeschlossen. Darüber hinaus bildete die Regie- Im Zuge einer neuen »patriotischen« Politik entschied
rung substantielle Reserven, indem sie Einnahmen aus Putin im November 2013 bezeichnenderweise, einen
Description:märkten ist für Russland essentiell, und asiatische Finanz- märkte bieten auf kurze from-Developing-Countries-2003-2012.pdf>. • March, Luke: