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Hermann Broch
Kommentierte Werkausgabe
Herausgegeben von
Paul Michael Lützeier
Band 10/1
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Hermann Broch
Philosophische Schriften 1
Kritik
Suhrkamp
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Zweite Auflage 1986
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1977
Bibliographischer Nachweis für die
einzelnen Texte am Schluß des Bandes
Alle Rechte Vorbehalten
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Printed in Germany
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Inhalt
Kultur kritik
Kultur 1908/1909 (1908/1909)....................................... 11
Ornamente (Der Fall Loos) (ca. 1911) .......................... 32
Pamphlet gegen die Hochschätzung des Menschen
(ca. 1932)........................................................................ 34
Leben ohne platonische Idee (1932)................................ 46
Die Kunst am Ende einer Kultur (1933).......................... 53
Erwägungen zum Problem des Kulturtodes (1936) . . . 59
Philosophische Aufgaben einer Internationalen
Akademie (1946)........................................................... 67
Positivismus-Kritik
Zum Begriff der Geisteswissenschaften (1 9 1 7 )................115
Die sogenannten philosophischen Grundfragen einer
empirischen Wissenschaft (ca. 1 9 2 8 )........................... 131
Zur Geschichte der Philosophie (ca. 1 9 3 2 )..................... 147
Das Unmittelbare in Philosophie und Dichtung
(ca. 1932).......................................................................... 167
Theologie, Positivismus und Dichtung (ca. 1934) . . . . 191
Rezensionen
Ethik. Unter Hinweis auf H. St. Chamberlains Buch
Immanuel Kant (1 9 1 4 )....................................................243
Otto Kaus, Dostojewski (1 9 1 6 )..........................................250
Felix Weltsch, Gnade und Freiheit (1920)....................... 252
Wilhelm Schäfer, Drei Briefe (1921) 254
Eine Neuausgabe Lorenz von Steins: L. v. Stein,
Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich (1921) 255
Die erkenntnistheoretische Bedeutung des Begriffes
»Revolution« und die Wiederbelebung der Hegelschen
Dialektik. Zu den Büchern Arthur Lieberts: A. L.,
Vom Geist der Revolutionen, Wie ist kritische Philo
sophie überhaupt möglich? (1922)................................ 257
Max Adler, Marx als Denker, Engels als Denker (1922) 264
Albert Spaier, La pensee et la quantite (1929)................ 268
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Alfred Polgar, Handbuch des Kritikers (1938) ............. 269
Maurice Bergmann, Die Lage der arbeitenden Klasse in
Deutschland (1939)......................................................... 271
Hanns Sachs, Freud, Master and Friend (1945)............. 273
Jean-Paul Sartre, UEtre et le Neant (1 9 4 6 ).................... 275
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1 9 4 7 ).................... 279
Bemerkungen zu Karl Kerenyis Schrift Der göttliche Arzt
(1947)................................................................................ 281
Julie Braun-Vogelstein, Geist und Gestalt der abend
ländischen Kunst (1948) 285
Frankreichs Regenerationskraft. Werner Richter, Frank
reich. Von Gambetta zu Clemenceau (1 9 4 8 )............. 292
Geschichte als moralische Anthropologie. Erich Kahlers
>Scienza Nuovac E. K., Man the Measure (1949) . . . 298
Bibliographischer Nachweis.................................................312
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Kulturkritik
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Kultur 1908/19091
1908
Diese Kultur hat eine geographische Mission gehabt, und die
ist nun erfüllt. Sie mußte, um diesen Endzweck zu erreichen, die
ganze Ökonomie des Naturgeschehens anwenden, nur das Par
allele zur Entfaltung bringen und alles Überflüssige unterdrük-
ken.
So kam es, daß sich der Geist dieser Kultur nicht vertieft hat,
und daß er als unveränderter eiserner Bestand durch die Zeiten
mitgenommen worden ist. Der Geist dieser Kultur hat sich seit
ihrer Mündigkeit nicht vertieft, nicht ausgedehnt, doch der
Fortschritt an räumlicher weißer Zivilisation ist ein ungeheurer
gewesen. Wir stehen im Zeitalter des Verkehres; das ist die
Climax.
Die Pole sind entdeckt. Das ist der Schlußpunkt. Und da die
Natur keine Ecken und Spitzen kennt, ist auch dieser Gipfel
zwiefach und durch Zweifel unserer. Die noch zu leistende Kul
turarbeit ist ausfüllende Detaillierung zwischen den beiden Po
len. Und dann bleibt nichts mehr. Toll geworden wird sich der
Verkehr um die überbekannte Erde drehen, eine Energie, die
kein äußeres Ziel finden kann und hysterisch wird. Und sie wird
sich in Wolkenkratzern entladen können.
Stirbt der Mensch, so stirbt seine Sexualität mit ihm, und stirbt
die Kultur, so muß ihre Kunst dasselbe tun.
Dieses verblüffende Axiom ist ungenügend und wäre zu er
klären.
Mit dem Sterben geht das große Erkennen Hand in Hand. Nur
das Vitale hat die Kraft für das Wunder des Unbegreiflichen,
der Erschöpfte glaubt zu erkennen. Das Gewesene wird abge
schlossen, kann in gesammelte Werke gefaßt werden; es ist
leichter, den Standpunkt außen zu finden, wo der gewisse Hebel
angelegt werden kann.
Ich glaube daher, daß der Zeitpunkt gekommen ist, in wel
chem die Lebensrätsel im Rahmen der europäischen Kultur ge
löst werden könnten. Diese Lösung wird keineswegs eine rich
tige sein, denn eine Kultur ist etwas Begrenztes, aber das
Denksystem, dem wir angehören, kann in befriedigender Weise
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ausgefüllt werden.
In der klaren, durchsichtigen, verwissenschaftlichten Luft des
Erkennens, und sei es selbst nur des scheinbaren Erkennens,
kann nun keine Kunst bestehen.
Die Kunst ist dumpf und triebhaft; entweder schafft der
Künstler intuitiv unter dem Druck der auf ihn wirkenden Ein
drücke, oder er formt sein Kunstwerk bewußt, den Eindruck
berechnend, den es auf den Genießenden machen muß. Der
naive Künstler erster Kategorie degeneriert bereits zum schol
lenriechenden Heimatsschaffer; der Bewußtkünstler wird aber
noch immer hoch gehalten und von den Intellektuellen unserer
Zeit sehr bewertet, siehe Karl Kraus.
Und doch ist eine solche Kunst nur Kapcllmeistermusik. Das
Produktive an ihr ist die Prägnierung von Klischees, deren Wir
kung vorher nur in Henidenform da war, doch in verteufelt kur
zer Zeit ist auch dieses Klischee erlernt, und das Kunstwerk ist
schal geworden.
Es ist dies der Grund, warum viele gute Schriftsteller für uns
unleserlich geworden sind: ihre Kunstwirkungen sind Klischees
geworden. Die Anzahl der bekannten Klischees wächst bereits
ins Ungeheure, man denke nur daran, was der Musiker alles
vermeiden muß, um nicht gemeinplätzig zu werden: es ist be
kannt, daß leere Quinten eine öde Stimmung hervorrufen, daß
der Übergang von Moll ins reiche Dur festlich wirkt etc. etc.
Nichtsdestoweniger sündigt die Kunst aufs heftigste weiter,
arbeitet mit den naivsten Mitteln, man denke an Strauss2, Mah
ler3, und läßt sich überdies noch »raffiniert« nennen. Von dem
Schrifttum ganz zu schweigen, denn selbst die bedeutendsten
Finessen des Stiles sind plumpe Bauernscherze.
Die Kunst ist ein Atavismus der Kultur, sie ist der letzte Zeuge
jener Zeit, da die Kultur aus den Sensationen des Naturgesche
hens geboren wurde. Die Kunst ist dies Zurücksehnen nach der
Natursensation, sei es nun, daß sie von einem Intuitivkünstler
oder Bewußtschaffenden erzeugt werde. Die Kultur überzieht
Geist mit einer Decke, füllt ihn mit dem Gedächtnis der Gene
rationen, sie erleichtert ihm das Denken in ihrem Sinne, er wird
die Zivilisationsmaschine. Die Löcher in der Decke sind die
Atavismen des impressionablen Naturgeistes, so aber die Kul
tur zu Ende gewachsen ist, hat sie alle ihre Löcher und Auslas
sungen verschlossen, und die Kunst ist tot.
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