Table Of ContentWirtschaft + Gesellschaft
Christoph Deutschmann
Kapitalistische
Dynamik
Eine gesellschaftstheoretische Perspektive
2. Auflage
Wirtschaft + Gesellschaft
Reihe herausgegeben von
Andrea Maurer, FB IV Sociologie, Universität Trier, Trier, Deutschland
Uwe Schimank, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
Wirtschaft und Gesellschaft ist ein wichtiges Themenfeld der Sozialwissenschaften.
Daher diese Buchreihe: Sie will zentrale Institutionen des Wirtschaftslebens wie Märkte,
Geld und Unternehmen sowie deren Entwicklungsdynamiken sozial- und gesellschafts-
theoretisch in den Blick nehmen. Damit soll ein sichtbarer Raum für Arbeiten geschaf-
fen werden, die die Wirtschaft in ihrer gesellschaftlichen Einbettung betrachten oder aber
soziale Effekte des Wirtschaftsgeschehens und wirtschaftlichen Denkens analysieren. Die
Reihe steht für einen disziplinären wie theoretischen Pluralismus und pflegt ein offenes
Themenspektrum.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12587
Christoph Deutschmann
Kapitalistische Dynamik
Eine gesellschaftstheoretische Perspektive
2. Auflage
Christoph Deutschmann
Institut für Soziologie
Eberhard Karls-Universität Tübingen
Tübingen, Deutschland
ISSN 2626-6156 ISSN 2626-6164 (electronic)
Wirtschaft + Gesellschaft
ISBN 978-3-658-26226-6 ISBN 978-3-658-26227-3 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-658-26227-3
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Inhaltsverzeichnis
1 Einführung und Übersicht ........................................ 1
Teil I Die Wahlverwandtschaft zwischen Kapitalismus und Religion
2 Kapitalismus, Religion und Unternehmertum ........................ 11
3 Ideen und Interessen ............................................. 43
4 Geld als absolutes Mittel ......................................... 63
Teil II Die Dynamik wirtschaftlicher Institutionen
5 Die Mythenspirale ............................................... 81
6 Dynamische Modelle institutioneller Einbettung ...................... 99
7 „Kapitalismus“ und „Geist des Kapitalismus“ ....................... 115
8 Der Typus des Unternehmers in wirtschaftssoziologischer Sicht ......... 129
Teil III Aktuelle Transformationsprozesse der Arbeitswelt
9 Industriesoziologie als Wirklichkeitswissenschaft ..................... 153
10 Latente Funktionen der Institution des Berufs ....................... 175
Teil IV Finanzmärkte und „Finanzialisierung“
11 Finanzmarkt-Kapitalismus und Wachstumskrise ..................... 189
12 Die Finanzmärkte und die Mittelschichten .......................... 215
13 Euro-Krise und internationale Finanzkrise .......................... 231
Literatur ........................................................... 247
V
Einführung und Übersicht 1
Das Thema der in diesem Band zusammengestellten Aufsätze wird dem an genaue
fachliche Arbeit gewöhnten Leser zunächst uferlos erscheinen. Er (oder sie) wird sich
zwischen alle disziplinären Stühle gesetzt vorkommen: Geht es nun um Gesellschafts-
theorie, Wirtschaftssoziologie oder Ökonomie? Ökonomen werden Probleme mit dem
Begriff der „kapitalistischen Dynamik“ haben. Der Ausdruck „wirtschaftliches Wachs-
tum“ ist ihnen zwar vertraut, und auch die Faktoren, von denen das wirtschaftliche
Wachstum abzuhängen scheint: Kapital, Arbeit, technischer Fortschritt, Bevölkerung,
natürliche Ressourcen usw. Hier jedoch sollen keine Modelle über kapital- oder arbeits-
sparenden technischen Fortschritt gerechnet werden, und es soll auch nicht der Einfluss
unterschiedlicher Lohn- oder Profitquoten auf das wirtschaftliche Wachstum untersucht
werden. Mit dem Begriff „kapitalistische Dynamik“ soll zunächst signalisiert werden,
dass es nicht nur um wirtschaftliche Entwicklung im engeren Sinne gehen soll. Der
Begriff „Kapitalismus“ ist nicht nur wirtschaftlich, sondern gesellschaftstheoretisch zu
verstehen, darin sind sich seine Urheber von Marx bis Weber, Sombart und Schumpe-
ter ungeachtet ihrer sonstigen Differenzen einig. Den analytischen Blick nicht von vorn
herein auf die „Wirtschaft“ hie, die „Gesellschaft“ da zu verengen, die wirtschaftliche
Dynamik in ihrer Schlüsselbedeutung auch für die gesellschaftliche Entwicklung zu
analysieren: das ist die Intention der heute als „klassisch“ geltenden Autoren, der hier
gefolgt werden soll. Es sollen auch nicht nur Modelle konstruiert werden; angestrebt
wird vielmehr eine empirisch-historische Form der Theoriebildung gemäß Webers Pro-
gramm einer „Wirklichkeitswissenschaft“.
Ein solches Vorhaben fügt sich nicht der geläufigen Arbeitsteilung zwischen Sozio-
logie und Wirtschaftswissenschaften, in der die von Pareto getroffene Unterscheidung
zwischen „logischen“ und „nichtlogischen“ Handlungen bis heute nachwirkt. Pareto
hatte die logischen Handlungen als Arbeitsgebiet der Ökonomie, die nichtlogischen
Handlungen dagegen als Terrain der Soziologie vorgesehen – eine Einteilung die sich
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 1
C. Deutschmann, Kapitalistische Dynamik, Wirtschaft + Gesellschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-26227-3_1
2 1 Einführung und Übersicht
als sehr folgenreich für die Entwicklung und Differenzierung der ursprünglich ja unter
dem Dach der „Staatswissenschaften“ bzw. der „Politischen Ökonomie“ vereinigten bei-
den Disziplinen erwies. Soziologen pflegen sich seither nicht mehr für die Wirtschaft
selbst, sondern nur für die normativen, moralischen und kulturellen Kontextbedingungen
des Wirtschaftshandelns zu interessieren. Die Soziologie wurde zur Wissenschaft vom
„Datenkranz“. Die Ökonomen ihrerseits konzentrieren sich auf die analytische Modellie-
rung rationaler Entscheidungsprozesse und klammern dabei die störenden Einflüsse der
Gesellschaft so weit wie möglich aus.
Dieser Zustand wird allerdings schon seit einiger Zeit zunehmend als unbefriedigend
empfunden, nicht nur in der Soziologie, sondern auch in den Wirtschaftswissenschaften.
Die sogenannte „neue Wirtschaftssoziologie“ (Granovetter, Swedberg, White, Fligstein,
Beckert, Ganssmann) bemüht sich darum, das traditionelle Desinteresse der Soziologie
gegenüber der Wirtschaft zu überwinden und wirtschaftliche Fragen, etwa nach den
Konstitutionsbedingungen von Geld und Tauschbeziehungen, den Funktionsmechanis-
men von Märkten oder der Entstehung von Präferenzen, mit den Mitteln soziologischer
Analyse zu bearbeiten (im Überblick Swedberg 2003; Maurer 2008, 2010).
Auch die hier vorgelegten Studien sind durch die Absicht geleitet, das Profil der Wirt-
schaftssoziologie gegenüber der ökonomischen Theorie neu zu bestimmen. Mit der
Wirtschaftssoziologie wird die Unentbehrlichkeit der „sozialen Einbettung“ der Märkte
in Normen, Institutionen, Netzwerke und Vertrauensbeziehungen betont. „Soziale Ein-
bettung“ – dieses Missverständnis wird freilich auch in der Wirtschaftssoziologie nicht
immer konsequent vermieden – sollte freilich nicht als bloße „Rahmung“ des Marktes
durch Sozialstrukturen nicht kommerzieller Art verstanden werden. Auch der institutio-
nelle Kern des Marktes selbst – Privateigentum, Austausch, Geld – stellt unzweifelhaft
ein soziales System dar. Märkte basieren auf Reziprozität: Ego kann auf das Eigentum
Alters nur unter der Voraussetzung der Anerkennung eines Zugriffsrechts Alters auf sein
Eigentum zugreifen. Auch wenn die in Märkten institutionalisierte Reziprozität häufig
nur formaler und minimaler Art ist, handelt sich nicht um ein System rein egoistisch
bzw. utilitaristisch motivierter Handlungen, als das es in den Wirtschaftswissenschaften
unter Berufung auf analytische Erkenntnisinteressen üblicherweise modelliert wird. In
seiner bekannten Kritik am „Modell-Platonismus“ des ökonomischen Denkens hat Hans
Albert vor mehr als fünfzig Jahren (Albert 1967) seiner Verwunderung darüber Ausdruck
gegeben, dass der fiktionale Charakter solcher Modellierungen vielen Fachvertretern der
Ökonomik nicht einmal bewusst zu sein scheint. An dieser Sachlage hat sich bis heute
nichts geändert – im Gegenteil.
Albert hat vorgeschlagen, die Nationalökonomie als eine „partielle Soziologie“ aufzu-
fassen, und zwar „vorwiegend als eine Soziologie der kommerziellen Beziehungen“, die
sich auf das soziale Feld von Märkten konzentriert (Albert 1967, S. 406). Dieser Sicht-
weise soll hier gefolgt werden. Der Markt ist eine Institution, die aus der Geschichte der
menschlichen Zivilisation nicht wegzudenken ist und schon deshalb in den Zuständig-
keitsbereich der Soziologie gehören sollte. Unter empirisch-historischen Gesichts-
punkten ist freilich die von Karl Polanyi (1978) eingeführte Unterscheidung zwischen
1 Einführung und Übersicht 3
„eingebetteten“ und „entgrenzten“ Märkten zentral; mit ihr kommt auch der Begriff
„Kapitalismus“ ins Spiel. In vormodernen Gesellschaften blieben Märkte „sozial ein-
gebettet“ in dem Sinne, dass sie weitgehend auf den Austausch von Gütern und Dienst-
leistungen beschränkt blieben und nur eine nachgeordnete Rolle im Rahmen politisch
oder religiös begründeter Herrschaftsordnungen spielten. Für moderne Gesellschaften
dagegen ist der durch die liberalen Bewegungen des 18. Jahrhunderts initiierte Prozess
der Entgrenzung der Märkte charakteristisch. Der Ware-Geld-Nexus weitet sich von
Produkten und Dienstleistungen auf die Produktionsbedingungen – Land, industrielle
Produktionsmittel, freie Arbeit – aus. Darüber hinaus kommt es zu einer räumlichen und
einer sozialen Entgrenzung der Märkte: Transnationale Produkt-, Kapital- und Arbeits-
märkte nehmen einen historisch beispiellosen Aufschwung und schränken die Selbst-
genügsamkeit lokaler und sogar nationaler Wirtschaftskreisläufe immer mehr ein. Die
Warenform dringt immer stärker in die sozialen Verhältnisse in einem gegebenen Ter-
ritorium ein, mit der Folge der Verwandlung ständischer und gemeinschaftlicher in
kommerzielle Sozialbeziehungen. Die Märkte sind damit nicht länger in die ständische
Gesellschaft „eingebettet“, sondern umkehrt scheint die Gesellschaft sich in ein blo-
ßes „Anhängsel“ entgrenzter Märkte zu verwandeln. Die Warenform gewinnt damit,
wie schon Marx erkannt hatte, eine weit mehr als bloß „ökonomische“ Bedeutung. Sie
wird vielmehr zum Inbegriff eines gesellschaftlichen Zusammenhangs historisch gänz-
lich neuer Art, für den Marx die Bezeichnung „kapitalistisch“ einführte. Er benutzte den
Begriff freilich nur als Adjektiv; es waren erst Sombart und Weber, die die substantivisti-
sche Redeweise vom „Kapitalismus“ einführten.
Der moderne Kapitalismus geht historisch auf den durch die „große Transformation“
(Karl Polanyi) des 19. Jahrhunderts initiierten Prozess der Entgrenzung der Märkte
zurück. Die Entgrenzung der Märkte freilich – und hier erweist sich das Weber’sche
Forschungsprogramm als korrektur- und erweiterungsbedürftig – bedeutet nicht etwa
den definitiven Sieg des aus der Logik des Markthandelns ursprünglich abgeleiteten
Rationalprinzips wirtschaftlichen Entscheidens, wie man zunächst vermuten könnte. Wie
die neuere Wirtschaftssoziologie herausgearbeitet hat, ist „rationales“ Entscheiden und
Handeln in der sozialen Wirklichkeit immer nur unter der impliziten Prämisse „sozial
eingebetteter“ Märkte möglich (Beckert 1997). Die Marktakteure handeln in einer
Welt, die durch Institutionen, soziale Konventionen, Netzwerke und Organisationen
immer schon so geordnet ist, dass die analytischen Voraussetzungen der Theorie ratio-
naler Wahl erfüllt zu sein scheinen: Die Akteure kennen ihre eigenen Präferenzen; sie
kennen außerdem ihre Tauschpartner, sowie den Markt und sein Umfeld gut genug, um
die Folgen und Nebenfolgen ihrer Entscheidungen realistisch einzuschätzen. Die glei-
chen Vorbedingungen für rationales Entscheiden, die in der reinen Theorie nur analytisch
dekretiert und expliziert werden müssen, müssen in der sozialen Realität durch komplexe
institutionelle Arrangements gewährleistet werden. Das Beispiel von der Hausfrau, die
auf dem Wochenmarkt Äpfel oder Bananen einkauft, ist in nationalökonomischen Lehr-
büchern wohl vor allem deshalb so beliebt, weil es sich hier geradezu um einen Muster-
fall „sozial eingebetteter“ Märkte handelt.
4 1 Einführung und Übersicht
Aber Wochenmärkte sind nicht länger der für die heutige gesellschaftliche Wirk-
lichkeit typische Fall; jeder, der sich in die Fallstricke von Internet-Plattformen ver-
strickt hat, weiß ein Lied davon zu singen. Nicht mehr eingebettete, sondern entgrenzte
Märkte sind heute dominant – Märkte, die nicht nur räumlich über alle Grenzen hin-
weg gewachsen sind, sondern auch in sozialer, sachlicher und zeitlicher Hinsicht. Wo,
bei wem, was und wann sie kaufen, steht den Kunden so frei wie nie, sofern sie nur
zahlungsfähig sind; spiegelbildlich gilt das auch für die Produzenten bzw. Anbieter.
Das heißt nicht, dass es nicht weiterhin Institutionen, Konventionen, Organisationen
und Netzwerke als Mechanismen der Regulierung von Märkten gäbe. Aber diese über-
wiegend nur auf lokaler, sektoraler oder nationaler Ebene wirksamen Mechanismen sind
ihrerseits in den größeren Zusammenhang des entgrenzten Marktes „eingebettet“, der
letztlich durch nichts anderes reguliert wird als durch sich selbst. Der verselbstständigte,
von allen Seiten her auf die Akteure einwirkende Konkurrenzdruck arbeitet unablässig
daran, „Wettbewerbshindernisse“ zu beseitigen und vermeintlich Stabilität bietende Ins-
titutionen, Regeln und soziale Einbettungen zu unterhöhlen, die damit ihre Funktion als
Ankerpunkte individueller Rationalität immer mehr einbüßen.
Unter solchen Bedingungen haben die Marktakteure erst einmal mit einem viel
grundlegenderen Problem zu tun als dem der rationalen Optimierung von Ent-
scheidungen: mit Unsicherheit. Der Begriff „Unsicherheit“ ist, wie schon der Chicagoer
Ökonom Frank Knight in den 1920er Jahren herausgearbeitet hatte, von dem des „Risi-
kos“ zu unterscheiden. In einer Situation des Risikos kennen die Akteure die möglichen
Folgen einer Entscheidung und sind in der Lage, die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens
mathematisch abzuschätzen. In einer Situation der Unsicherheit dagegen sind weder die
Gesamtheit der möglichen Handlungsfolgen bekannt, noch die Wahrscheinlichkeit, mit
der die bekannten Handlungsfolgen eintreten. Noch nicht einmal ihre eigenen Präferen-
zen sind den Akteuren ohne weiteres klar.
Natürlich stellt sich die Frage, wie in einer solchen Situation Entscheidungen über-
haupt möglich sind. Die von wirtschaftssoziologischer Seite vorgeschlagene Antwort
darauf ist: Entscheidungen werden dadurch möglich, dass die Akteure die Wirklichkeit
nicht in ihrer ganzen Komplexität wahrnehmen, sondern bewusst oder unwillkürlich auf
vereinfachende Bilder – Jens Beckert (2016) spricht von „kfi tionalen Erwartungen“ –
zurückgreifen. Diese Fiktionen können sich im Nachhinein als falsch oder stark ver-
zerrend erweisen; das Wichtige ist aber, dass sie die Wahrnehmung erst einmal so lfitern,
dass Entscheidungen und Handeln überhaupt möglich werden. Derartige Fiktionen bzw.
Visionen kommen nicht nur im Bereich der Technologie vor, sondern in allen Handlungs-
feldern der Wirtschaft, vom Konsum bis hin zu den Finanzmärkten. Das gemeinsame
Merkmal dieser kognitiven Konstruktionen ist ihre Zukunftsorientierung, ihre Funktion,
eine von möglichst vielen Akteuren geteilte gemeinsame Wahrnehmung einer prinzipiell
offenen Zukunft zu erzeugen. Im Erfolgsfall wird diese Wahrnehmung zu einer „self-ful-
lfiling prophecy“ – die Wirklichkeit wird dann so, wie sie ist, weil die Leute glauben, sie
sei so. Aber natürlich ist der Erfolg niemals garantiert; kfi tionale Erwartungen können
scheitern und können dann schwere wirtschaftliche Krisen nach sich ziehen.