Table Of ContentMichael G. Festl (Hg.)
Handbuch
Pragmatismus
Michael G. Festl (Hg.)
Handbuch
Pragmatismus
J. B. Metzler Verlag
Der Herausgeber
Dr. Michael G. Festl ist Senior Lecturer für Philosophie
an der Universität St. Gallen und war von 2013 bis 2015
Präsident der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft.
2014 gründete er das John Dewey Center Switzerland und
hat seither dessen Direktion inne.
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ISBN 978-3-476-04556-0 [email protected]
ISBN 978-3-476-04557-7 (eBook)
Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
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Inhalt
Einleitung VII 24 P ädagogik Jürgen Oelkers 178
25 A nthropologie Marc Rölli 186
I K lassische Denker 26 S oziologie Frithjof Nungesser /
Andreas Pettenkofer 193
1 C harles Sanders Peirce Tullio Viola 2 27 S ymbolischer Interaktionismus
2 W illiam James Ana Honnacker 10 Jörg Strübing 200
3 J ohn Dewey Annette Langner-Pitschmann 18 28 P sychologie Michael Anacker 207
4 G eorge Herbert Mead Frithjof Nungesser 27
5 W eitere Klassiker: Von Emerson bis
Whitehead Dennis Sölch 35 IV D er Pragmatismus und die philosophische
Tradition
II G rundbegriffe 29 Scholastik Tullio Viola 216
30 S keptizismus Tina Massing /
6 H andlung Philipp Dorstewitz 44 Werner Moskopp 224
7 B edeutung Michael G. Festl 52 31 D arwinism Tibor Solymosi 231
8 W ahrheit Justo Serrano Zamora 59 32 S cottish Common-Sense Philosophy
9 K ontingenz und Kreativität Michael G. Festl 65 Roberto Gronda 237
10 E rfahrung Jörg Volbers 74 33 K ant Sami Pihlström 243
11 E xperiment Justo Serrano Zamora 81 34 H egel Paul Giladi 250
12 N atur Tina Massing / Werner Moskopp 86 35 M arxismus Christoph Henning 257
13 K ultur Michael I. Räber 94 36 H istorismus Hans Joas 264
14 G ewohnheit Jörg Volbers 101 37 L ogischer Empirismus Michael G. Festl 271
15 M etaphysik Melanie Sehgal 108 38 K ritische Theorie Arvi Särkelä 281
III T heoretische Ansätze V R eaktionen
16 E rkenntnistheorie Michael G. Festl 116 39 A merican Context Roberto Gronda 290
17 L ogik und Wissenschaftstheorie 40 D eutschsprachiger Raum Dennis Sölch 297
Tina Massing / Werner Moskopp 124 41 S üdwesteuropäischer Raum Tullio Viola 304
18 S emiotik Gesche Linde 131 42 E astern European Context Alexander Kremer /
19 E thik Michael G. Festl 139 Wojciech Malecki / Krzysztof Piotr Skowroński /
20 D emokratietheorie Dirk Jörke 148 Emil Visnovsky 312
21 S ozialphilosophie Arvi Särkelä 155 43 N ordic Context Henrik Rydenfelt 321
22 R eligionsphilosophie Ana Honnacker 162 44 E ast Asian Context Sor-hoon Tan 327
23 P hilosophie der Kunst Michael I. Räber 171
VI Inhalt
VI N eue Herausforderungen 50 T echnologie und zweites Maschinenzeitalter
Michael G. Festl 370
45 N euroscience Tibor Solymosi 336 51 P hilosophie der Öffentlichkeit
46 T ier-Mensch-Vergleich Justo Serrano Zamora 377
Frithjof Nungesser 342
47 P olitische Philosophie im globalen Kontext
Michael Reder 350 Anhang
48 G erechtigkeitstheorie Michael G. Festl 357
49 F eministische Philosophie Autorinnen und Autoren 384
Federica Gregoratto 363 Personenregister 386
Einleitung
Ursprünge: Cambridge und Chicago den Gesprächskreisen in Cambridge hervorgingen,
stammen von Charles Sanders Peirce. In ihnen kriti-
Das pragmatistische Denken wird in Diskussionskrei- siert Peirce große Teile der philosophischen Tradition
sen geboren, die sich im letzten Drittel des 19. Jahr- – für die er stellvertretend René Descartes nennt – da-
hunderts in Cambridge, Massachusetts, primär im für, Scheinprobleme zu produzieren. In erster Linie,
Dunstkreis der Universität Harvard bildeten. Der wenn sie glaubt, dass alle Wissenschaft durch eine Ba-
»Metaphysical Club«, von seinen Mitgliedern ironisch sis an Wissen fundiert werden muss, das der Empirie
und ketzerisch so getauft, gilt heute als der bekannteste vorgelagert ist – Wissen, das deshalb unerschütterlich
dieser Kreise. Vordringliches Thema der Diskussionen ist und von der Philosophie zu erheben wäre. Die Pra-
war, was Darwins On the Origin of Species, veröffent- xis der Forschung, gerade in den Naturwissenschaf-
licht 1859, für die Philosophie bedeutet; damit kann ten, beweist jedoch, so entgegnet Peirce, dass ein der-
der Pragmatismus als eine der frühesten affirmativen artiges Basiswissen gar nicht nötig ist, um wissen-
Bezugnahmen auf Darwin gelten, und zwar in einem schaftlichen Fortschritt zu erzielen. Um solche und
Umfeld, das dessen Theorie nicht zuletzt aufgrund ih- ähnliche Scheinprobleme in Zukunft zu vermeiden,
rer religiösen Implikationen primär feindlich gesinnt verordnet Peirce der Philosophie das Prinzip, dass
war. Einig waren sich die ersten Pragmatisten Chaun- sich alles Denken, auch das abstrakteste, ultimativ an
cey Wright, Charles Sanders Peirce, Oliver Wendell der Praxis, an seinen Früchten zu bewähren hat.
Holmes und William James, die in diesen Kreisen u. a. In diesen frühen Aufsätzen skizziert Peirce des
zusammenkamen, darin, dass Darwins Werk die Phi- Weiteren, was aus diesem Prinzip, welches er schon
losophie des Idealismus, welche zu dieser Zeit in den bei Immanuel Kant angelegt sieht (s. Kap. 33), für phi-
USA tonangebend und eng mit den dominierenden losophische Kernbegriffe folgt, allen voran die Begrif-
Religionen verbunden war, obsolet machte. Die Phi- fe Wahrheit und Bedeutung. Berühmt wurde hierbei
losophie auf Basis von Darwins Erkenntnissen zu re- vor allem eine Formulierung, die Peirce in Bezug auf
konstruieren, war daher das zentrale und in den mit- den Bedeutungsbegriff gebraucht: »So kommen wir
unter kontroversen Diskussionen am ehesten Konsens zu dem, was greifbar und, denkbarerweise, praktisch
findende Ziel der frühen Pragmatisten. ist, als der Wurzel jeder realen Unterscheidung des
Einig war man sich des Weiteren darin, dass Herbert Denkens, wie fein diese auch immer sein mag; und es
Spencers Denken, das ebenfalls eine darwinistische Re- gibt keinen Bedeutungsunterschied, der so fein ist,
konstruktion der Philosophie versuchte, fehlgeleitet daß er in etwas anderem als einem möglichen Unter-
war: Keineswegs verleihe Darwins Theorie einem Den- schied in der Praxis bestünde« (2015, 193).
ken in kausalen Notwendigkeiten Rückenwind. Was für Es ist in der Folge William James und dessen Talent,
die frühen Pragmatisten aus Darwins Theorie vielmehr die Dinge auf den Begriff zu bringen, zu verdanken,
folgte, war zum einen, dass sie die Rolle des Zufalls in dass daraus ein philosophisches Programm mit dem
der Natur stärkt, da sie zeigt, dass sich Organismen mit- Namen ›Pragmatismus‹ wird. Deutlicher noch als
tels zufälliger Mutationen entwickeln. Zum anderen Peirce selbst erkennt James, dass es die Frage nach den
leitete der frühe Pragmatismus aus Darwin ein Prinzip praktischen Konsequenzen bzw. der Relevanz für
der Kontinuität ab, insofern neue Lebewesen nicht Handlung (gr.: prãgma) ist, die den Kern des peirce-
sprunghaft, sondern nach und nach mittels kleiner Ab- schen Denkens ausmacht. ›Fruits not roots‹, auf die
weichungen entstehen, Evolution, statt Revolution. Früchte kommt es an, nicht auf die Wurzeln, ist James’
Die ersten philosophisch bedeutenden, wenn auch Motto. Sein Vortrag »Philosophical Conceptions und
in ihrer Zeit kaum rezipierten Publikationen, die aus Practical Results« aus dem Jahr 1899, gehalten in Ber-
VIII Einleitung
keley, Kalifornien, kann als Tauffeier des Pragmatis- gegen die herrschenden Umstände der Zeit erzielen
mus bezeichnet werden. James, zu diesem Zeitpunkt lassen würden. Der Chicago-Pragmatismus war zu-
bereits berühmt als Gründer der modernen Psycho- tiefst reformatorisch und dennoch nicht revolutionär.
logie in den USA, spricht darin von Peirce als einem Er glaubte, dass sich die Bedingungen des Handelns,
der originellsten Denker der Zeit und von dessen welche die Moderne mit sich brachte, mittels kon-
Prinzip des »Praktikalismus« oder »Pragmatismus«, sequenter Reformen nach und nach in die richtige
als dem Kompass des philosophischen Denkens, dem Richtung pressen lassen würden. Allerdings klammert
er, James, in Zukunft folgen wolle (2010, 186). sich der Pragmatismus in der Folge, trotz dieses Ur-
In Chicago erlebte der Pragmatismus um die Wende sprungs, auch nicht dogmatisch an die Idee der Re-
zum 20. Jahrhundert, allen voran im Austausch und in form. Dies beweist bereits Dewey, wenn er angesichts
der Kooperation zwischen Jane Addams, John Dewey der Weltwirtschaftskrise von 1929 und deren gesell-
und George Herbert Mead, seine politische Erweckung. schaftlichen Folgen für eine radikale Abwendung vom
Das Chicago der damaligen Zeit war ein unglaublich ungezügelten Kapitalismus seiner Zeit plädiert.
aufstrebender, aber gleichzeitig konfliktbeladener und, In jedem Fall ist es für das politische Denken des
wie das Titelbild dieses Handbuchs verdeutlichen soll, Pragmatismus nicht wichtig, die Gegenwart all-
von extremen Gegensätzen gezeichneter Ort, Kom- gemein, etwa als Teil einer Epoche zu evaluieren. Ad-
merz versus Kunst, Arbeit versus Kapital, Arm versus dams, Dewey und Mead interessierte nicht, ob sich die
Reich, Glamour versus Elend etc. Just als Dewey im Gegenwart als Abschnitt im Rahmen menschlicher
Sommer 1894 nach Chicago reiste, um seinen neuen Entwicklungsstufen fassen lässt und falls ja, an wel-
Job als Leiter der Philosophie-Fakultät an der Univer- cher Stelle sie sich dabei befindet; derartige Klassifika-
sität von Chicago anzutreten, bewegte sich der Pull- tionsversuche wollten sie als Teil einer vordarwinis-
mann-Eisenbahner-Streik rasant seinem brutalen Hö- tischen bzw. Darwin falsch verstehenden Philosophie,
hepunkt zu. In diesem Milieu wurden die pragmatisti- wie diejenige Spencers, gerade hinter sich lassen. Als
schen Grundideen, geschärft im intellektuellen Kampf entscheidend galt ihnen vielmehr, dass die Gesell-
um die Bedeutung Darwins, in eine normative Theorie schaft verbesserungsfähig ist und auch verbessert wer-
übersetzt und ließen den Pragmatismus so zu einer den sollte – Meliorismus (lat. melior: besser) ist daher
vollständigen philosophischen Schule werden. seit jeher das soziale Programm des Pragmatismus.
Eingedenk der Geschehnisse und Entwicklungen in Und um Meliorismus zu betreiben, muss man nicht
Chicago mitsamt der diffusen Gemengelage an Theo- pauschal angeben können, ob die Gegenwart gut oder
rien, Ideen, Weltanschauungen und Tatsachen akzep- schlecht ist. Herauszufinden gilt es, wie sie sich kon-
tierten die Pragmatisten, dass es auch in der sozialen kret verbessern lässt.
Welt nicht immer geordnet zugehen kann. Sie beton- Angesichts einer permanent der Bewegung unter-
ten jedoch, dass man gerade deshalb versuchen müsse, worfenen Gesellschaft, wie die Moderne sie mit sich
die gegebenen Probleme durch koordiniertes und (so- bringt, ist dabei allerdings auch die Hoffnung zu ver-
zial-)wissenschaftliches Handeln in den Griff zu be- abschieden, dass die Gesellschaft perfektioniert wer-
kommen. Nur so werde man in den Stand versetzt, ge- den könnte. Im darwinistischen Paradigma von Lebe-
sellschaftliche Ziele, welche selbst wiederum der koor- wesen denkend, die sich mit ihrer Umwelt auseinan-
dinierten Aushandlung bedürfen, trotz der komplexen dersetzen müssen, glaubt der Pragmatismus, dass die
Umstände einer entfesselten Moderne umzusetzen. Notwendigkeit, sich anzupassen, auf Dauer gegeben
Dies brachte das pragmatistische Denken in die Nähe ist. Die Dinge lassen sich nicht ein für alle Mal klären.
von sozialen Bewegungen von unten, die u. a. mehr Meliorismus steht nicht nur in Widerspruch zu Lais-
Rechte für die Arbeiterklasse, aber auch für Frauen sez-faire, sondern auch in Widerspruch zu Perfektion.
forderten, und in grundsätzlichen Gegensatz zur Lais- Allerdings betonten Addams, Mead und Dewey, dass
sez-faire Stimmung der Zeit – für welche in den USA die Menschheit einen Stand erreicht hat, auf dem sie
ebenfalls Spencers Philosophie wegweisend war, die- sich nicht mehr nur an die Umwelt anpassen muss,
ses Mal in Form des Sozialdarwinismus einen angeb- sondern einen Stand, auf dem sie die Chance – aber
lich notwendig verlaufenden und besser nicht durch damit auch die Verantwortung – hat, diese Umwelt
geplante Eingriffe zu störenden gesellschaftlichen selbst im großen Stil zu verändern, sie so einzurichten,
Fortschritt betonend. Doch dem Prinzip der Kontinui- dass sie gelingendem menschlichen Leben zuträgli-
tät verschrieben, vertraten die Pragmatisten auch wie- cher wird. Es ist wohl ganz besonders diese, wenn man
derum nicht die Auffassung, dass sich Fortschritte nur so will ›optimistische Mahnung‹, mit der die Klassiker
Einleitung I X
des Pragmatismus unter Beweis stellen, wie hochrele- matismus nicht zuletzt Stellung gegen die analytische
vant ihr Denken für uns heute ist. Sich selbst der Risi- Philosophie. Dieser warf er vor, die Sprache als etwas
ken wohlbewusst, die damit einhergehen – Risiken, zu setzen, das dem menschlichen Denken absolut vor-
die wir in Zeiten des nicht mehr aufzuhaltenden Kli- gelagert ist. Damit, so die Kritik, wiederhole sie den
mawandels heute noch mehr spüren als sie damals –, Fehler, den Peirce der kartesischen Philosophie einst
erinnern sie uns gleichwohl daran, dass die Tatsache, vorhielt, wenn er deren Versuch bemängelte, die Wis-
dass wir Menschen imstande sind, verändernd in un- senschaften philosophisch fundieren zu wollen.
sere Umwelt einzugreifen, nicht nur eine Gefahr sein Mit seiner Kritik an der analytischen Philosophie
müsste, sondern auch eine Chance darstellen könnte. war der Neopragmatismus allerdings nur teilweise er-
Pragmatistisches Denken möglichst sparsam de- folgreich. Diese Kritik half zwar, selbige Philosophie
finierend, lässt sich sagen, dass es ein Denken ist, das in Frage zu stellen und manche ihrer hochtrabenden
jeden Glauben an natürliche und/oder geschichtliche Erwartungen zu zügeln, die analytische Philosophie
Notwendigkeit ablehnt und, gedeckt vom Prinzip der hat aber dennoch, vor allem in den USA, noch immer
Kontinuität, grundsätzlich (Ausnahmen bestätigen als die einflussreichste philosophische Schule zu gel-
aber die Regel) um eine zwar schrittweise, aber beharr- ten. Umgekehrt ist heute zu konstatieren, dass sich der
lich vorgehende intentionale Verbesserung der Gesell- Neopragmatismus in großen Teilen selbst totgelaufen
schaft besorgt ist. Gemessen an den eigenen Vorstel- hat. Dies liegt einerseits darin begründet, dass es ihm
lungen wurde dieses Denken in der Folge eine ebenso nicht gelang, über die Ablehnung der analytischen
wirkmächtige wie erfolgreiche Philosophie. Zu Recht Philosophie hinaus, selbst ein positives Programm zu
gilt der Pragmatismus als Geist hinter der Ära des Pro- entwerfen. Andererseits darin, dass sowohl seine Me-
gressivismus in den USA, einer Periode umfassender taphysikkritik als auch seine eliminative Strategie be-
Reformen zwischen ungefähr 1890 und 1920 mit dem züglich einstmals zentraler philosophischer Begriffe
Ziel, den Problemen zu begegnen, die sich u. a. aus der gerade von der jüngsten Generation an Pragmatistin-
Industrialisierung, der Urbanisierung, der Immigrati- nen und Pragmatisten, wie sie in diesem Handbuch
on und der Korruption ergaben, Bemühungen mit ausführlich zu Wort kommt, zunehmend als ein-
Vorbildfunktion für den Rest der Welt. schränkend und unnötig restriktiv empfunden wird.
Was den Pragmatismus betrifft, ist das ›nachmetaphy-
sische Denken‹, wie Habermas es für die letzte Gene-
Der Neopragmatismus und die Bewegung ration wirkmächtig proklamierte, heute schon wieder
zurück zu den Ursprüngen beendet; dabei ist allerdings einschränkend hinzuzu-
fügen, dass Metaphysik im Pragmatismus, wie Mela-
Um die Mitte des 20. Jahrhunderts fiel der Pragmatis- nie Sehgal zeigt (s. Kap. 15), nicht eins zu eins mit dem
mus als philosophische Schule zwar nicht ganz dem gleichzusetzen ist, was Habermas mit seiner Ableh-
Vergessen anheim, sackte aber sowohl in seiner gesell- nung der Metaphysik im Sinn hatte.
schaftlichen als auch in seiner philosophischen Be- Die Abwendung vom Neopragmatismus ist jeden-
deutung erheblich ab. Erst ab den späten 1970er Jah- falls keine Abwendung vom Pragmatismus. Im Ge-
ren wendete sich das Blatt. Die pragmatistischen Den- genteil. Sie führt dazu, dass sich das Interesse wieder
ker wurden wiederbelebt: Peirce von Karl-Otto Apel verstärkt auf die klassischen Pragmatisten richtet,
und Jürgen Habermas, Dewey von Richard Rorty und u. a., auf deren Art, Metaphysik zu betreiben und mit
Hilary Putnam, Mead von Jürgen Habermas und Begriffen umzugehen, welche der Neopragmatismus
Hans Joas – so lassen sich wichtige Stationen des pri- aus der Philosophie verbannt hatte. So kann der Prag-
mär deutsch-amerikanischen Wiederanstoßes des matismus nicht zuletzt in Deutschland und der
Pragmatismus markieren. Schweiz als eine der einflussreichsten philosophi-
Gerade in der Nachfolge Rortys und Putnams führte schen Schulen der Gegenwart gelten. Die neue Ent-
dies bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts dazu, dass der wicklung – weg vom Neo- hin zum klassischen Prag-
sog. Neopragmatismus aufblühte. Dieser betont vor al- matismus – wurde im vorliegenden Handbuch be-
lem die metaphysikkritischen Aspekte des Pragmatis- wusst affirmiert. So gibt es etwa einen Teil, der sich
mus und wollte die Philosophie dazu bringen, einen spezifisch und personenzentriert mit den Denkern
Gutteil ihrer traditionellen Begriffe fallenzulassen, da- des klassischen Pragmatismus auseinandersetzt, je-
runter auch so prominente Begriffe wie ›Bedeutung‹, doch keinen äquivalenten zum Neopragmatismus.
›Erfahrung‹ oder ›Kultur‹. Damit bezog der Neoprag- Ganz bewusst wurde dabei auch George Herbert
X Einleitung
Mead in den Rang eines Klassikers erhoben und damit Aufbau des Handbuchs
die Anzahl der klassischen Pragmatisten, wie sie in
der Regel gezählt wird, von drei – Charles Sanders Dieses Handbuch soll die Geschichte, Gegenwart und
Peirce, William James, John Dewey – auf vier erhöht. Zukunft des Pragmatismus darstellen. Es geht somit
Das reflektiert nicht nur eine spezifische Eigenheit der sowohl ums Nacherzählen, Rekonstruieren und Inter-
deutschen Rezeption des Pragmatismus, insofern die- pretieren, aber auch – und erst recht – ums Anpassen,
se schon sehr früh – zunächst durch Habermas und Aktualisieren und ›Besser-Machen‹. Auf Letzteres zu
dann vor allem durch Joas, der dankenswerter Weise verzichten, würde dem melioristischen Geist des Prag-
einen Artikel zu diesem Handbuch beigesteuert hat – matismus widersprechen.
ein besonderes Faible für das meadsche Denken be- Teil I des Handbuchs ist den klassischen Pragma-
wies. Es spiegelt auch einen allgemeinen Anstieg des tisten gewidmet. Teil II nimmt die zentralen Begriffe
Interesses an Mead wider, ein Anstieg, der nicht zu- des Pragmatismus unter die Lupe. Teil III verdeut-
letzt dadurch bedingt ist, dass in den letzten Jahren licht die wissenschaftlichen Beiträge des Pragmatis-
immer mehr von Meads Schriften der Öffentlichkeit mus geordnet nach Disziplinen. Teil IV zeigt, wie
zugänglich gemacht und dabei wahre Schätze gebor- sich der Pragmatismus zur philosophischen Traditi-
gen werden. on verhält und wie diese wiederum auf den Pragma-
Eine andere Entwicklung bezüglich der klassischen tismus reagiert. Teil V ordnet die Reaktionen auf den
Pragmatisten wurde im Handbuch nicht bewusst ge- und die Appropriationen des Pragmatismus geogra-
stützt. Sie hat sich jedoch gleichsam organisch er- phisch und pickt dabei einige wichtige Gebiete he-
geben, und zwar aus den Schwerpunkten, welche die raus. Teil VI versucht, pragmatistisches Denken
Autorinnen und Autoren bei den thematisch vorgege- fruchtbar für Herausforderungen zu machen, die
benen Artikeln in Eigenregie gesetzt haben: die Ent- sich dem klassischen Pragmatismus in dieser Form
wicklung, dass John Dewey heute (wieder) als ›Ober- noch nicht gestellt haben, jedoch wichtig in unserer
haupt‹ des Pragmatismus angesehen wird, wie sich Zeit sind.
aus der Tatsache folgern lässt, dass sein Denken das Seine Thematik erschöpfend behandelt zu haben,
Gros der hier versammelten Kapitel dominiert. Er ist, kann leider (oder vielleicht auch: zum Glück) keiner
was die klassischen Pragmatisten betrifft, der Primus dieser Teile von sich behaupten. Es existiert (zumin-
inter Pares; dazu passt, dass unter der Leitung Arvi dest im Geiste) aber noch eine Reihe von Kapiteln,
Särkeläs 2019 ein Handbuch in der vorliegenden Rei- die für das Handbuch geplant waren, sich am Ende
he speziell zu Dewey erscheinen soll. Diese Entwick- aus diversen Gründen aber doch nicht realisieren lie-
lung scheint mir zum einen dadurch begründet, dass ßen. Sie seien hier im Sinne eines Nachrufs auf Nicht-
innerhalb des Pragmatismus kaum ein Thema exis- Geborenes aufgelistet: Kapitel zu den Begriffen Plu-
tiert, zu dem Dewey nicht maßgeblich beigetragen ralismus und Untersuchung; die Sprachphilosophie
hätte; dabei wird Deweys Aufstieg auch von der Ab- des Pragmatismus; seine Rezeption in Großbritan-
wendung vom Neopragmatismus begünstigt, war sein nien, besonders in England; der religiöse Fundamen-
Denken doch nicht zuletzt um Begriffe zentriert, wel- talismus und die Flüchtlingspolitik als neue Heraus-
che der Neopragmatismus verbannen wollte, ganz be- forderungen.
sonders der Begriff ›Erfahrung‹ und später, wie Mi-
chael Räber zeigt (s. Kap. 13), der Begriff ›Kultur‹.
Zum anderen dürfte die zunehmende Fokussierung Dank
auf Dewey mit der politisch-gesellschaftlichen Situa-
tion unserer Tage zu tun haben, einer als krisenhaft Dieter Thomä sei dafür gedankt, dass er die Zusam-
empfundenen. Just auf eine derartige Situation hat menarbeit zwischen dem Verlag und mir vermittelte.
auch Dewey, unter den Umständen seiner Zeit und Franziska Remeika vom Metzler-Verlag hat das Hand-
vielleicht noch ein wenig mehr als seine pragmatisti- buch von Anfang bis Ende mit Rat, Tat und großer Sou-
schen Mitstreiterinnen und Mitstreiter, zu antworten veränität unterstützt. Dafür sei ihr herzlich gedankt.
versucht. Deshalb liegt es nahe, Deweys Überlegun- Großer Dank gebührt freilich auch den Autorinnen
gen zum demokratischen Leben als Basis seines ge- und Autoren, die sich auf die Vorgaben des Handbuchs
samten Denkens auszuweisen, nachzulesen in dem und die vielen, hoffentlich nicht zu vielen Spezialwün-
Kapitel von Annette Langner-Pitschmann, das aus- sche seines Herausgebers eingelassen haben.
schließlich seinem Denken gewidmet ist (s. Kap. 3).