Table Of ContentJOSEPH RAITH
ENGLISCHE METRIK
MAX HUEBER VERLAG MÜNCHEN
JOSEPH RAITH
ENGLISCHE METRIK
1962
MAX HUEBER VERLAG MÜNCHEN
Sladtbibliothok
Mönchen
0488 /G3
© 1962 by Max Hueber Verlag, München
Gesamtherstellung: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany
IN MEMORIAM
ROBERT SPINDLER
(1893-1954)
Vorwort
Die vorliegende Englische Metrik ist bestimmt, an die Stelle der 1927 im
gleichen Verlag erschienenen Englischen Metrik von Robert Spindler zu
treten. Es war Spindler nicht vergönnt, eine Neubearbeitung seines Buches
herauszubringen; er ist 1954 nach einem arbeitsreichen Leben gestorben.
Mein Werk weicht sowohl in der Anlage wie in der Durchführung von dem
Spindler’schen ab. Spindlers Metrik war aus Vorlesungen und Übungen an
der Universität München erwachsen: daher die Gliederung in 16 Kapitel
(Unterrichtseinheiten), daher der der Rede verpflichtete Stil. Meine Metrik
ist am Schreibtisch entstanden: daher ein etwas anderer Aufbau und ein
Stil, dem man hoffentlich den Schreibtisch nicht anmerkt. In diesem Zu
sammenhang darf ich übrigens bemerken, daß es allzeit mein Bestreben
war, mich gemeinverständlich auszudrücken. Man wird also vergebens
Ausschau halten nach inkhom terms wie Aphärese und Synizese, Apokope
und Synklisis, katalektische und akatalektische Verse, isometrische und
heterometrische Strophen. Ich hasse solchen Fremdwörter kram; er gehört
in die Rumpelkammer der pseudowissenschaftlichen Terminologie. In
einem Punkt bin ich allerdings Spindler gefolgt. Seine Englische Metrik
war ebenso sehr eine Verslehre wie eine Geschichte der Dichtungsformen.
Ich habe diese Auffassung übernommen und versucht, die Entwicklung
der verschiedenen Vers- und Strophenarten und der Dichtungsformen in
der englischen und amerikanischen Literatur (die Dominienliteratur blieb
unberücksichtigt) von den Anfängen bis zur Gegenwart nachzuzeichnen.
Daß ich in manchen Dingen anderer Ansicht bin wie Spindler, versteht
sich von selbst. So schon in der grundsätzlichen Frage: Fuß bzw. Takt oder
Hebung und Senkung? Während Spindler jambische und trochäische
»Füße« (ebenso natürlich daktylische und anapästische) in die englischen
Verse hineinlegt (25-31), vermag ich beim besten Willen nur eine regel
mäßige Abfolge von Hebungen und Senkungen, d.h. von betonten und
unbetonten Silben, zu erkennen. Spindler erläutert seine Auffassung an
einem Vers aus Tennysons In Memoriam (II1): Old 'yew, which 'graspest 'at
the 'stones. Nach Spindler bilden die beiden Silben the 'stones einen Takt, der
aus einer betonten Silbe (stones) und einer vorausgehenden unbetonten
Silbe (the) besteht. Ähnlich könnte man old'yew auffassen, wo die prosaische
Betonung (level stress) 'old 'yew der poetischen Betonung old 'yew gewichen
ist. Wie aber steht es mit dem Rest der Zeile, etwa mit graspest) Hier hätten
wir eigentlich einen Takt, der aus einer betonten und einer darauf folgenden
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unbetonten Silbe besteht: 'graspest. Oder soll man which 'gras- und -pest 'at
als zwei Takte zerschneiden? Wie ist the 'under- lying 'dead in der folgenden
Zeile zu verstehen? Als fallende Takte Runder- lying) oder als steigende
Takte (the 'un\der- ly\ing 'dead)? Ich fürchte, es ist mit der metrischen Ter
minologie wie mit der grammatischen Terminologie. Wir verbauen uns
hier wie dort das Verständnis der Zusammenhänge, wenn wir dauernd
nach der lateinischen Metrik bzw. Grammatik schielen. Über die Berech
tigung dieser Terminologie für die antike Metrik haben wir hier nicht zu
befinden; aber die englische Metrik ist nicht ein Ableger der antiken, son
dern durchaus sui generis. Natürlich konnte sich die englische (wie über
haupt die germanische) Verstechnik dem Einfluß der antiken Verstechnik
nicht ganz entziehen; ich erinnere aus der früheren Zeit an den Reim, der
zweifellos der antiken Kunstprosa verpflichtet ist, aus der späteren Zeit an
den Blankvers, der irgendwie mit dem reimlosen antiken Vers zusammen
hängt, an vereinzelte Versuche der Humanisten, nach antikem Vorbild
Silben zu zählen und zu messen: so wie Miltons light denied klärlich ein Ab
leger des lateinischen ablativus absolutus ist. Aber das berechtigt uns noch
lange nicht, das antike System in Bausch und Bogen zu übernehmen, die
englische Metrik auf das Prokrustesbett der antiken Metrik zu spannen.
Spindler scheint selbst bei seiner »antikisierenden« englischen Metrik ein
ungutes Gefühl gehabt zu haben. Er zitiert gelegentlich E. W. Scripture,
The Physical Nature of Verse: “Verse is purely a matter of rhythm; it has
no metre. The usual scheme of prosody with feet, syllables, iambus, trochee
etc. is a fantastic fabric of fancy without the faintest foundation in fact.” Er
kann sich jedoch aus den Vorstellungen der antiken Metrik nicht lösen:
meliora probo, deteriora sequor.
Spindler stützte sich für seine Metrik weitgehend auf zwei bewährte Antho
logien: Herrig-Försters British Classical Authors (98. Auflage: Braun
schweig 1925) und Aronsteins Selections from English Poetry (Leipzig
1905 u. ö.); daneben auf Zupitza-Schippers bekanntes Alt- und Mittel
englisches Übungsbuch (12. Auflage: Wien 1925) und Schückings Kleines
Angelsächsisches Dichterbuch (Leipzig 1919) sowie Jiriczeks Viktorianische
Dichtung (Heidelberg 1907). Er begründete dieses Vorgehen wie folgt:
»Bei den Beispielangaben wurde vorwiegend Rücksicht genommen auf
den bescheidenen Umfang der Privatbibliothek des Studenten. Wird näm
lich ein Gedicht, sagen wir Shelleys, selbst genau nach Band- und Seiten
zahl etwa der Shepherd’schen Gesamtausgabe (1871-75) zitiert, so hat das
lediglich den Erfolg, daß diese Ausgabe sich ihres unberührten Daseins in
irgendeiner öffentlichen Bibliothek weiter erfreut und keine Eselsohren be
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kommt; verweist man aber auf eine brauchbare Chrestomathie, die zum
eisernen Bestand selbst der bescheidensten Studentenbibliothek gehört, so
wird doch in den meisten Fällen das Gedicht nachgesehen und - hoffent
lich auch gelesen.« (8). Ich unterschreibe jedes Wort. Nachdem jedoch die
meisten der angegebenen Anthologien (die zudem das 20. Jahrhundert nur
ungenügend berücksichtigen) vergriffen sind, mußte ich mich auf andere,
neuere Anthologien stützen (soweit ich nicht auf poems not yet antholo
gized verweisen mußte, was bei den neueren Dichtern nicht selten der Fall
war): zuvörderst auf das von A. Quiller-Couch herausgegebene Oxford
Book of English Verse (2. Auflage 1939: zitiert O) und das von J. Hay
ward herausgegebene Penguin Book of English Verse (1936: zitiert P);
außerdem auf die beiden von mir herausgegebenen Bändchen Five Cen
turies of English Verse und Three Centuries of American Verse (beide
1961: zitiert R). Darüber hinaus mußte ich gelegentlich, vor allem für grö
ßere zusammenhängende Dichtungen, auf die übrigen Oxford Books of
Verse zurückgreifen (zitiert I-VI): Sixteenth Century Verse von E. K.
Chambers (1932), Seventeenth Century Verse von H. Grierson und G.
Bullough (1934), Eighteenth Century Verse von D. N. Smith (1926), Ro
mantic Period von H. Milford (1928), Victorian Verse von A. Quiller-
Couch (1912), Modern Verse von W. B. Yeats (1936). Für das Mittelalter
habe ich außerdem herangezogen R. Kaisers ausgezeichnete Anthologie
Medieval English (1938: zitiert K), für die neueste Zeit L. Untermeyers
zwei Bände Modern British Poetry (1950) und Modern American Poetry
(1950). Alle diese Anthologien, zusammen mit einem Dutzend weiterer,
sind auch in der Bibliographie aufgeführt. Ich habe mich allerdings nicht
mit Verweisen auf diese Anthologien begnügt, sondern darüber hinaus die
wichtigsten Versarten bzw. Strophenformen (von der alliterierenden Lang
zeile bis zum vers libre} durch sorgfältig ausgewählte Beispiele belegt.
Der Aufbau des vorliegenden Werkes dürfte ohne weiteres einleuchten.
Nachdem in den beiden Abschnitten Vers und Strophe die grundsätzlichen
Fragen geklärt sind, werden in den folgenden Abschnitten die wichtigsten
Versarten bzw. Strophenformen von der einfachen Zeile, die als Stabreim-
vers oder Blankvers begegnet, bis zu komplizierten Strophengebilden wie
dem Sonett und der Ode besprochen; daran schließt sich eine kurze Dar
stellung der antiken Vers- und Strophenformen und der romanischen Stro
phenformen, soweit sie in der englischen Dichtung begegnen; den Beschluß
machen die freien Rhythmen.
Ich dachte erst, in einem eigenen Abschnitt einen zusammenfassenden
Überblick über die Entwicklung der verschiedenen Versarten und Stro
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phenformen von den Anfängen bis zur Gegenwart zu geben. Ich wollte
zeigen, wie im Laufe des 12. Jahrhunderts der germanische Stabreimvers
mit seinen vier Hebungen und seiner beliebigen Anzahl von Senkungen
unter dem Einfluß von französischen und mittellateinischen Dichtungsfor
men abgelöst wurde durch den regelmäßig gebauten einsenkigen Vers mit
Endreim; wie der alte unregelmäßige Vers aber weiterlebte und in der
Ballade und im Knittelvers fröhliche Urständ feierte; wie im 15. Jahrhun
dert das gesamte metrische Gerüst der mittelenglischen Dichtung zusam
menbrach, indem Chaucers klangvoller Vers aus dem Anfang der Canter
bury Tales And smale Joules maken melodye sinnlos wurde, da man statt elf
Silben zuletzt nur noch sieben Silben in Händen hielt; wie man wieder ganz
von vorne anfangen mußte, wobei das Vorbild des antiken Verses nicht
selten in die Irre führte; wie das Sonett nach England fand; wie um die
Mitte des 16. Jahrhunderts der Blankvers das Licht der Welt erblickte, der
für die spätere Zeit so überaus bedeutsam werden sollte; wie nunmehr zwei-
senkige Verse neben einsenkige traten; wie das 17. Jahrhundert eine Hoch
flut von kunstvollen Strophengebilden sah; wie Ende des 17. Jahrhunderts
der Blankvers dem heroic couplet weichen mußte; wie Ende des 18. Jahr
hunderts die Romantik die erstarrten Formen auflockerte, nachdem Mac
pherson mit seinen freien Rhythmen vorangegangen war; wie um die Mitte
des 19. Jahrhunderts Walt Whitman seine rhythmische Prosa als Verse
ausgab; wie Ende des 19. Jahrhunderts alle möglichen romanischen Dich
tungsformen übernommen und nachgebildet wurden, und seitdem (Hop
kins machte den Anfang) die Versuche nicht abreißen, dem Vers neue Mög
lichkeiten zu erschließen: all das wollte ich in großen Zügen aufzeigen und
belegen. Ich habe dann doch davon abgesehen; eine solche Darstellung
hätte den Rahmen der Englischen Metrik gesprengt.
Was heißt und zu welchem Zweck studiert man Metrik? Diese Frage (es
handelt sich natürlich um ein Plagiat; man möge mich also nicht für das
schlechte Deutsch verantwortlich machen) soll noch kurz beantwortet wer
den. Metrik oder Verslehre ist eigentlich die Lehre vom Versmaß (griech.
[xerpov Maß), vom Bau des Verses und von den dafür gültigen Regeln. Im
weiteren Sinne ist Metrik die Darstellung der Versformen einer bestimmten
Literatur, hier der englischen (und amerikanischen); eine Darstellung, die
folgende Fragen zu beantworten versucht: welche Versformen gibt es, wie
sind sie entstanden, wie haben sie sich entwickelt, wofür sind sie der sprach
liche Ausdruck (lyrisch, dramatisch, episch), welche Dichter haben sich
ihrer bedient, welche Bedeutung kommt ihnen im Ablauf der englischen
Literatur zu? usw. Auf diese Fragen soll die Metrik eine Antwort geben.
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Was sie nicht ist, brauche ich wohl nicht eigens zu sagen: sie ist keine An
leitung zum Dichten. Wie Spindler richtig bemerkt, hat noch kein Mensch
aus einem Traktat über Metrik jemals das Dichten gelernt, und ebenso war
es z. B. für Byron höchst gleichgültig zu wissen, daß die von ihm im Childe
Harold verwendete Strophenform auf eine altfranzösische Balladenstrophe
zurückging. Wenn nun eine Metrik auch kein Lehrbuch ist zum Zweck
des Dichtens, so ist sie in anderem Sinne doch ein Lehrbuch: zum Zweck
des besseren Verständnisses einer Dichtung. “We need metrics if we are to
be fully sensitive to poetry, as we need grammar before we can enjoy Ho
mer.” (C. S. Lewis in A Review of English Literature I: i960). Zugegeben:
ich kann ein Gedicht wie Miltons On his Blindness auch verstehen, ohne
etwas von der inneren Struktur dieser Dichtungsform zu wissen und ohne
den erschütternden persönlichen Hintergrund zu kennen (ich kann ihn er
ahnen); aber das volle Verständnis eines solchen Gedichts ist doch nur dem
möglich, der einerseits etwas von den Lebensschicksalen des Dichters
weiß, anderseits die innere Struktur des Sonetts wenigstens in großen
Zügen kennt. Natürlich ist eine eingehende Beschäftigung mit der »Vers
lehre«, der allgemeinen sowohl wie der speziellen (einer bestimmten
Sprache bzw. Literatur), auch dem angehenden Dichter von Nutzen, ähn
lich wie der angehende Komponist sich mit den wichtigsten Tatsachen der
»Harmonielehre« vertraut machen muß; es ist die handwerkliche Seite je
der Kunst: »Aller Kunst muß das Handwerk vorangehen« (Goethe). Um
gekehrt haben aber ebenso die Dichter wie die Komponisten die Verslehre
und die Harmonielehre in entscheidenden Punkten gefördert und weiter
geführt: nicht nur durch ihr Werk, in dem sie neue Wege gegangen sind,
sondern auch durch theoretische Überlegungen. Zu allen Zeiten haben
große und kleine Geister sich über die Grundlagen ihres Schaffens den
Kopf zerbrochen: von Horaz und Dante bis G. M. Hopkins und T. S.
Eliot. Daß solche Besinnung auf die Grundlagen auch in die Irre führen
kann, zeigt mit erschreckender Deutlichkeit unser Meistersang.
H. Wiebe hat kürzlich der Metrik von Spindler hohes Lob gezollt: »Die
Arbeit ist aus der Praxis des Universitätsunterrichtes hervorgegangen und
hat unzähligen Studenten wertvolle Dienste geleistet. Sie ist auch weiterhin
uneingeschränkt gültig und sollte als zuverlässiges Nachschlagewerk über
all zur Verfügung stehen.« (Die Fachbücherei des Neusprachlers: Englisch
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nutzern dieselben guten Dienste leisten wird: daß es ihnen den Umgang mit
englischer Dichtung erleichtern und nicht verleiden möge.
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