Table Of ContentEhrbare Kaufl eute
Richard Raatzsch
Ehrbare Kaufl eute
Eine philosophische Betrachtung
Prof. Dr. Richard Raatzsch
EBS Universität für Wirtschaft und Recht
Wiesbaden, Deutschland
ISBN 978-3-658-04423-7 ISBN 978-3-658-04424-4 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-658-04424-4
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Lektorat: Frank Schindler, Stefanie Loyal
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Inhalt
1 Genealogisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2 Problem, Bedeutung und Ziel der Betrachtung . . . . . . . . . . 15
2.1 Das Problem, näher bestimmt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.2 Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.3 Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
3 » Vertrauen « – epistemisch oder praktisch ? . . . . . . . . . . . . 33
4 Genealogisches (Fortsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
5 In welchem Sinn » gut « redundant ist, und in welchem nicht . . . 61
6 Die Sittlichkeit Ehrbarer Kaufleute . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
7 Ethik und Betriebswirtschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Nachtrag: Über die Natur der vorliegenden Betrachtung . . . . . . . 93
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Dieses Buch ist der erste Teil eines zweiteiligen philosophischen Arguments, kann
aber auch für sich allein gelesen werden.
1
Genealogisches
In der Zeit nach dem ersten Jahr, in dem russische Kaufleute auf den Aleuten und
in Alaska Handel trieben, konnte es geschehen, dass sie von den Einheimischen
gezwungen wurden, die Schulden zu bezahlen, die ihre Vorgänger hinterlassen
hatten. Die Kunden jener ersten Kaufleute hielten sich also an anderen Kaufleuten
schadlos. Diese wiederum reagierten in entsprechender Weise, führten nur das
Notwendigste mit sich, mieden bestimmte Gebiete usw. Dieses Verhalten wurde
allgemein, es wurde Methode. Man kann fast sagen, es hatte System.
Eine ähnliche Verhaltensform war in Südeuropa schon Hunderte von Jahren
vorher verbreitet gewesen; und andernorts zu verschiedenen Zeiten vermutlich
auch.
Und wie ebenfalls lange vorher schon in Europa, bildeten die russischen Kauf-
leute auf den Aleuten und in Alaska schließlich Vereinigungen, zu deren wesent-
lichen Aufgaben es gehörte, dafür zu sorgen, dass möglichst niemand Schulden
hinterließ. Sollte dies dennoch geschehen, so kam es jenen Vereinigungen zu, die
ursprünglichen Schuldner zur Kasse zu bitten und bis dahin die Schulden aus
einem dafür eingerichteten Fonds der Vereinigung der Kaufleute zu bestreiten.
Wie im Fall der vorherigen ging auch die neue Verhaltensweise mit einer Form
von Gegenseitigkeit einher: die Eingeborenen hielten sich nicht mehr an irgend-
welchen, mehr oder weniger zufällig vorbeikommenden Kaufleuten schadlos,
sondern wandten sich an den Verein. Dieser sorgte seinerseits dafür, dass so gut
wie keine Schulden hinterlassen wurden und wenn doch, dass man darauf ver-
trauen konnte, dass diese beglichen werden würden, und zwar aus eben jenem
Fonds, der von den Mitgliedern des Vereins getragen wurde. In einer idealen Welt,
würde manche man sagen, hätte es, nach einer Weile, des Vereins eigentlich nicht
mehr bedurft, jedenfalls nicht aus den Gründen, aus denen heraus er geschaffen
wurde. Denn auf jene Weise etablierte sich, nach und nach, eine neue, bestimmten
Regeln folgende Praxis wirtschaftlichen Handelns. – Es ist verlockend, zu glauben,
R. Raatzsch, Ehrbare Kaufl eute, DOI 10.1007/978-3-658-04424-4_1,
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dass diese Praxis sich durch die Schaffung des Vereins bildete. Aber der Verein
entstand eben unter Bedingungen, die dafür sprachen, dass jene Praxis sich bilden
werde. Den Verein zu schaffen, war sicher ein wichtiger Schritt in der Geschichte
der Herausbildung dieser Praxis. Aber hätten die außerhalb des Vereins Agieren-
den auf seine Bildung nicht so reagiert, wie sie schließlich reagierten, wäre die Sa-
che wohl im Sande verlaufen.
Eine Praxis, wie das Wort hier verstanden wird, besteht natürlich nicht im
Handeln eines Einzelnen. Sie ist auch nicht einfach die Summe des Handelns vie-
ler Einzelner. Zugleich besteht sie aber auch nicht sozusagen jenseits des Han-
delns vieler. Eine Praxis besteht im geordneten Handeln vieler Einzelner. Sie ist so
etwas wie die mehr oder weniger feste Form wechselseitig aufeinander bezogenen
Handelns vieler. In diesem Sinn hat deren Verhalten Methode, oder eben: System.
Dieses System kann einfacher oder komplexer sein. Es kann Muster beinhalten
und selbst Teil eines größeren Musters sein.
Moderne wirtschaftliche Handlungsformen enthalten gewöhnlich, wiederum
selbst sehr umfassende und vielgestaltige Praktiken: etwa solche der Buchführung,
der Forschung und Entwicklung, des Vertriebes, der Versorgung mit und Bereit-
stellung von Materialien, Informationstechnologien, Energie, Finanzmitteln, Ar-
beitskraft, Personalführungsstrategien und -taktiken, Prozessplanungen und
-steuerungen u. a. m. Diese Teile und ihr Ganzes halten vielfältigste geordnete Ver-
bindungen zu anderen (Teilen von) Bereichen des sozialen Lebens, die ihrerseits
wieder oft eigenen Regeln folgen. Die Vielfalt etwa der heute für die menschliche
Ernährung hergestellten Produkte kommt fast der Vielfalt an Naturgegenständen
nahe, welche die Menschen zu konsumieren und anderweitig zu benutzen wuss-
ten, als sie noch als Jäger und Sammler lebten. Auch die Vielfalt der wirtschaft-
lichen Produktionsverfahren eifert der Zahl der Naturprozesse nach. Die Tiefe
moderner Handels- und anderen Kooperationsbeziehungen hat in der Geschichte
gar kein Vorbild. Der Umfang der Planung innerhalb und zwischen großen Unter-
nehmen übersteigt jede altkommunistische Phantasie.
Weiteres, scheinbar wirtschaftlich Externes, kommt hinzu. Zum Beispiel geo-
graphische Umstände: es kann für bestimmte Fragen von großer Bedeutung sein,
wie die Landschaft zwischen zwei Orten beschaffen ist. Schon die Beschreibung
verrät die Relevanz: zwei Orte sind durch einen Fluss oder ein Meer verbunden
und durch ein Gebirge getrennt.1 Ob Fluss oder Meer sie jedoch eher verbinden
1 Auf diese schöne Weise fasst Hegel den Unterschied in seiner Vernunft in der Geschichte, v. a.
S. 187 ff.; vorher hatte schon Adam Smith einen ähnlichen Punkt gemacht: Wealth …, Kapitel
3. Es wird allerdings für die folgenden Überlegungen durchgehend von Bedeutung sein, dass
die Antwort auf die Frage, ob Flüsse und Meere Menschen eher trennen oder eher verbin-
den, von der Art der zur Verfügung stehenden Transportmittel abhängt – diese aber wieder-
um nur welche sind, wenn sie so benutzt werden können, dass sie verbinden – was bedeutet,
Genealogisches 9
als trennen, hängt natürlich auch davon ab, wie es um die Verkehrsmittel bestellt
ist. Schiffe einer bestimmten Art machen Flüsse zu Verbindungswegen, aber nicht
unbedingt das Meer, und umgekehrt. Flugzeuge können wiederum Schiffe über-
flüssig machen; unter Umständen kann es aber auch andersherum sein. Natürlich
spielt auch das Fehlen oder Vorhandensein von Bodenschätzen eine Rolle, wenn
es um wirtschaftliches Handeln geht, ebenso Grad und Form der Arbeitsteilung,
historisch-kulturelle Besonderheiten, klimatische Fragen, und vieles vieles mehr.
Der Begriff der historisch-kulturellen Besonderheiten deutet schon auf das
hin, was für eine detaillierte Beschreibung der Entstehung jener oben erwähnten,
zumindest für die Eingeborenen, neuen Praxis alles zu berücksichtigen wäre: Ehr-
lichkeit, Höflichkeit, Klugheit, Mäßigung, Ausgeglichenheit, Besonnenheit und
Demut und vieles mehr, was auf eine der verschiedenen natürlichen Weisen diese
Liste fortführen würde.
Unter anderem wäre in diesem Zusammenhang auch darauf einzugehen, wie
das Lernen der Sprache der jeweils anderen Seite zu einer Pflicht wurde und zu
einer solchen u. a. nur deshalb werden konnte, weil gewisse Methoden des Leh-
rens entwickelt wurden. Ähnliches gilt für das Lehren und Lernen anderer prak-
tischer und formaler Fertigkeiten. Um auf einen schon angedeuteten Punkt zu-
rückzukommen, Schulden und, was leichter fallen mag, Guthaben etwa mussten
in bestimmter Form aufgezeichnet werden, um nicht vergessen oder durcheinan-
der gebracht zu werden – was wir heute » Doppelte Buchführung « nennen. Von
Natur aus, wie man es nennen könnte, sind Menschen in der Lage, sich so und so
viele Dinge zu merken. Jenseits dieser Grenzen brauchen sie, sozusagen künst-
liche, Hilfsmittel. Ähnliches gilt für die damit verbundene menschliche Fähigkeit,
Prozesse, auch solche des eigenen Handelns, zu überblicken. Schon für das häus-
liche Herstellen bestimmter Speisen brauchen heutzutage viele Menschen Anlei-
tungen. Aber Übung in diesem Gebiet erlaubt es den meisten, nach einer Weile
viele dieser Sachen aus dem Hut zu machen. Wenn es jedoch um die industrielle
Herstellung einer großen Palette von Gerichten geht, bräuchte es supermensch-
liche Fähigkeiten, um diese Prozesse ohne Buchführung, Aufzeichnungen, Vor-
schriften, Kontrollen u. v. m. zu meistern.
Dieses Beispiel deutet ebenfalls schon an, dass man, indem man eine detail-
lierte Beschreibung der Entstehung moderner, komplexer, systematischer, koope-
rativer Formen wirtschaftlichen Handelns gibt, davon berichtet, wie sich nach
dass am Ende aller solcher Überlegungen auch die Frage nach den Fähigkeiten, Kenntnis-
sen und Fertigkeiten von Menschen steht. Diese Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten
sind ebenso wenig ein für alle Mal fix, wie es (andere) Naturzustände sind. Wenn zum Bei-
spiel weiter unten eine Alternative » von Natur aus vorhandene versus künstliche Hilfsmit-
tel « aufgemacht wird, ist dies also in gewissem Sinne irreführend. Zum Ganzen siehe auch:
Mann, 1493.
10 Genealogisches
und nach Institutionen herausbildeten, wie zumindest einige der Fähigkeiten, in
deren geregelter Ausübung jene Institutionen ihr Dasein haben, in den aufeinan-
der folgenden Generationen geschaffen, fortentwickelt und ggf. kontrolliert wur-
den, wodurch sie sich schließlich über Generationen und Orte hinweg erhielten.
Vieles wurde dabei auch wieder vergessen, starb aus oder verschwand auf andere
Weise. Aufstieg und Verfall, Fortschritt und Rückschritt sind oft zwei Seiten der-
selben Medaille.
In eine Beschreibung der Entstehung einer Praxis wie der uns interessieren-
den fließen also Ausführungen über gesellschaftliche und anderweitig natür liche
sowie ggf. weitere Kontexte ein. Am Ende landet man bei einer Schilderung gro-
ßer Teile einer spezifischen Form menschlichen Lebens in einer bestimmten na-
türlichen Umgebung, mit gewissen politischen und kulturellen Merkmalen, wo-
bei mehr oder weniger alles mehr oder weniger alles andere beeinflussen kann.
Übertrieben gesagt, ein homogenes Ganzes wäre in seinem Werden, Bestehen
und seinen inhärenten Tendenzen zu beschreiben. Soweit ein solches Ganzes
schrittweise ein altes ersetzt, wäre eine solche Beschreibung zumindest teilweise
identisch mit einer Beschreibung des Bestehens und Untergehens einer alten Le-
bensform.
Was unsern Fall angeht, so wird in dieser Beschreibung auch von Misstrauen
die Rede sein müssen. Dabei wird insbesondere ein Formwechsel desselben zur
Sprache kommen. Denn es gibt keinen überzeugenden Grund für die Annahme,
dass es nur eine Form von Misstrauen gibt. Es können zu verschiedenen Zeiten,
an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen sozialen Gruppen ganz ver-
schiedene Formen existieren: solche, die sich etwa auf geschlechtliche oder Al-
tersunterschiede beziehen, oder für die Fragen des Aussehens, des Verdienstes,
der Herkunft, der Religionszugehörigkeit, der sozialen Stellung im allgemeinen
usw. eine oder eben keine Rolle spielen. So kann zum Beispiel innerhalb der dem
neuen System vorangehenden Zustände die Nichtzugehörigkeit zum eigenen
Stamm ein hinreichender Grund für Misstrauen etwa in Tauschangelegenheiten
gewesen sein, während Stammesmitglieder in dieser Hinsicht vielleicht prinzi piell
Vertrauen genossen. Man machte es sich nun aber zu einfach, würde man sagen,
dass der Wandel einfach darin bestand, dass diese Form des innergentilen Ver-
trauens auf die Händler ausgedehnt wurde, so wie diese in das zwischen ihnen be-
stehende Vertrauen schrittweise auch die Eingeborenen einbezogen. Denn diese
Darstellung würde ausblenden, dass das Misstrauen, welches einen Ehrbaren2
Kaufmann auszeichnet, wesentlich auf den Geschäftspartner, einschließlich des
Kunden, gerichtet ist, wer immer er sein mag. Das heißt, es wird nicht ausreichen
oder schlicht gar keine Rolle mehr spielen, (zu wissen,) ob man es mit Eingebore-
2 Zur Schreibweise siehe unten.