Table Of ContentNiklas Holzberg (Hrsg.)
Die Appendix Vergiliana
Pseudepigraphen im literarischen Kontext
SIN Gunter Narr Verlag Tübingen
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Druck und Bindung: Laupp & Góbel, Nehren
Printed in Giermany
ISSN 0941-4274
ISBN 3-8233-6202-X
Inhalt
WOFWOF znenesssnnnnnneunsnnennersonsennnnnnenannnnsssennnesssnnnrossnnunnnnnsonsnsnsnnansensnssonnenne ix
Verzeichnis der Mitarbeiter ...................... eese xviii
Abkürzungen ..............ee.ne .eenn. ee.ne .ernenenne 00e0 inn e000e00 srennete netes eeteas eaue s XX
SVEN LORENZ, Inuideo uobis, agri: mea gaudia habetis: Bukoli-
sche Verwünschungen und elegische Eifersucht in den Dirae ........ ]
MARKUS JANKA, Prolusio oder Posttext? Zum intertextuellen
Stammbaum des hypervergilischen Cufex .................................... 28
KATHARINA VOLK, Aetna oder Wie man ein Lehrgedicht schreibt ... 68
STEFAN MERKLE, Copa docta ............. cesseeie eense eesne etheta nans 9]
MARKO MARINCIC, Der elegische Staatsmann: Maecenas und der
augusteische Diskurs .......e..e.e. ..e.ene .e.e..n.e. 116
GERLINDE BRETZIGHEIMER, Poeta memor ludensque oder The
Making of Ciris ............. eee enne enero r nnno 142
NIKLAS HOLZBERG, In der Rolle des jungen Vergil: Der Autor
des Catalepton und sein libellus ................................e.s.s.e.s... 225
NIKLAS HOLZBERG, Hoffnung auf die Rückkehr des aureus puer:
Das Priapeum Quid hoc noui est? .................... eee 237
REGINA HÖSCHELE, Moreto-Poetik: Das Moretum als intertex-
tuelles Mischgericht ................l.e.e.s. ...ee.r.e .e.e.n.e. .n.ena s 244
Bibliographie ..............222220000220000n0neennnnnensnnennssansnssossnnnansnnnnennonnnennnnnn 270
Indizes
Index der Namen und Sachen ................................. eene 288
Stellenindex .........een.e .ntne neenneen snnne enhu ennno enen enenenene en enn nen 29]
Vorwort
Als um 1750 die Gilde der Bäcker und Müller im österreichischen
Schladming ihr Meisterbuch für die Jahre 1654-1750 fertiggestellt hat-
te, versah man es mit einem besonders kostbaren Pergamenteinband.
Ein Doppelblatt, das aus einem Vergil-Kodex des 9. Jahrhunderts her-
ausgetrennt worden war, legte sich mit seiner schónen karolingischen
Minuskelschrift und seinen Über- und Unterschriften in Capitalis rusti-
ca um die Annalen des Korndreschens und Bretzelbackens. Erst 1953
gelang es der Wissenschaft, das kostbare Dokument von dem anderen,
nicht ganz so kostbaren Dokument herunterzulósen und festzustellen,
daß es sogar ganz besonders kostbar ist. Denn das Pergamentblatt ent-
hált in Bruchstücken die für uns nunmehr áltesten Textzeugen von fünf
der insgesamt neun Texte, welche die Oxford-Ausgabe zusammen mit
den drei Ausonius-Gedichten De institutione, De est et non und De
rosis nascentibus unter dem Titel Appendix Vergiliana zusammenfaßt':
Reste der Ciris, des Catalepton, des Priapeums Quid hoc noui est?, der
Copa und des Moretum. An diesen Bruchstücken, die, heute im Steier-
märkischen Landesarchiv unter der Kodexnummer 1814 aufbewahrt,
zusammen als „Grazer Fragment" oder Fragmentum Graeciense be-
zeichnet werden‘, ist zweierlei besonders interessant. Zum einen liefern
die Texte einige textkritisch wichtige Lesarten’, zum anderen bekräftigt
der kodikologische Befund eine Vermutung, die vorher nur ein karolin-
gischer Bibliothekskatalog nahegelegt hatte: daß die neun „Vergiliana“
der Appendix bereits im 9. Jahrhundert in Vergil-Handschriften zu-
sammen mit Bucolica, Georgica und Aeneis in einer Art Ausgabe der
Opera omnia vereint sein konnten, also damals wie diese drei Werke
als Schópfungen des Dichters aus Mantua galten.
Bei dem Bibliothekskatalog handelt es sich um ein Verzeichnis, das
im 9. Jahrhundert im Kloster Murbach (Elsaß) angelegt wurde und nur
in einer Abschrift Siegmund Meisterlins von 1464 erhalten ist‘. Auf
Seite 96 lesen wir: DE POETIS ge(n)tiliu(m) VIRGILIUS Bucolico(n)
! Clausen et al. (1966). Nach dieser Ausgabe wird in allen Beiträgen des Sammelban-
des außer demjenigen von Marko Marin£it zitiert.
? Vgl Kraßler (1953a); (1953b); (1954); Bischoff (1953); Götte et al. (*1981), 541-2;
Richmond (19812), 1117-18.
9 Gaar (1953); Meister (1954); Lyne (1972).
* Milde (1968); Schoonhoven (1980), 1-2.
X
Georgico(n) lib(er) Eneydos Ei(us)d(em) Dire Culicis Ethne Copa Me-
cenas Ciris Catalepio(n) Priapeya Moretu(m). Wir haben hier den ein-
zigen eindeutigen Beleg dafür, daB die neun kleinen Dichtungen, wel-
che die Oxford-Ausgabe zusammen mit den drei Ausoniana umfaßt,
einmal alle zusammen abgeschrieben wurden. Denn was die übrige
mittelalterliche Überlieferung betrifft, finden sich in den 16 auf uns
gekommenen Kodizes des 9.-15. Jahrhunderts, die Texte der Appendix
enthalten, niemals aHe neun bzw. zwólf, sondern stets nur einzelne in
verschiedenen Kombinationen, wobei die Anzahl der Texte von zwei
(im Corsinianus 43 F 5: Culex, Aetna) bis acht (z.B. im Parisinus 17177
des 10. Jhs.: Culex, Dirae, Copa, De inst., De est et non, De rosis, Mo-
ret.) reicht. DaB man heute die gesamte Textgruppe unter dem Titel
Appendix Vergiliana zusammenfaßt, geht zurück auf Joseph Justus
Scaliger, der 1572 in Lyon Publii Vergilii Maronis Appendix veröffent-
lichte; wir haben es hier mit einer Sammlung kleiner lateinischer Dich-
tungen zu tun, unter denen schon alle Texte der Oxford-Ausgabe auBer
den drei Ausoniana vertreten sind”.
Scaliger gehórt überdies zu den ersten Gelehrten, die Vergil einzelne
der im Murbacher Katalog aufgezühlten opuscula absprachen und da-
durch eine bis in die Gegenwart andauernde Echtheitsdebatte auslösten.
Als dann 1966 die Oxford-Ausgabe erschien, besaß man zwar ein auf-
grund neuester Erkenntnisse überlieferungskritisch optimal ediertes
Textkorpus, aber man befand sich, was die Frage der Autorschaft be-
trifft, im wesentlichen immer noch auf dem Forschungsstand des 16.
Jahrhunderts. Denn außer im Falle von De institutione viri boni, De est
et non und De rosis nascentibus hatte man keine Einigkeit darüber er-
zielen können, ob alle diese Texte bzw. ein Teil von ihnen dem Dichter
Vergil durch die mittelalterlichen Handschriften mit Recht zugeschrie-
ben worden waren oder nicht. Das Meinungsspektrum reichte von der
Annahme, daß sämtliche opuscula von Vergil stammen, bis zur „Athe-
tese der Texte außer Catalepton E 5 und 8’ oder sogar dieser beiden
Gedichte".
Nun gibt es bereits aus der Antike, und zwar immerhin schon aus
der frühen Kaiserzeit, Zeugnisse von Lesern einzelner Dichtungen in-
° Zur Überlieferung der Appendix Vergiliana vgl. bes. Büchner (1955), 1064-5 =
(1956), 44-5 und 1066ff. = 46ff. passim; Courtney (1967); Reeve (1975), (1976);
Richmond (19812), 1117ff.; lodice (2002), XXVII-XXXII (dort eine bequeme Über-
sicht über die Kodizes).
* Franzoi (1998), 19-20; Iodice (2002), IX Anm. 2.
? Zu dieser Zählung s. u. S. 225 mit Anm. 4.
® Richmond (19812), 1121-2 und 1122ff. passim; lodice (2002), XX-VII.
xi
nerhalb der Appendix, die, weil hier die Vergilische Autorschaft der
betreffenden opuscula ganz selbstverstündlich vorausgesetzt wird, es
legitim erscheinen lassen, wenigstens diese für echte Vergiliana zu
halten. Gewiß, man darf aus besonders frühen Dokumenten der Vergil-
Rezeption die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit ableiten, daß
die Zeitgenossen als kanonische Werke des Dichters aus Mantua ledig-
lich Bucolica, Georgica und Aeneis ansahen". Aber es haben nun ein-
mal so bedeutende Poeten wie Lukan, Statius und Martial den Culex
und Quintilian Catalepton E 2 für Vergilisch gehalten", ja überdies
bezeichnet die Vita Suetoniana-Donatiana in einem Abschnitt, den
Donat unveründert von Sueton übernommen haben kónnte, Catalecton
(et Priapea et epigrammata) et Diras, item Cirim et Culicem sowie
(unter Verweis auf eine bereits geführte Authentizitütsdiskussion) die
Aetna als frühe Dichtungen Vergils''. Hieraus ergibt sich für den Lati-
nisten geradezu die Verpflichtung, bei seiner Auseinandersetzung mit
der Appendix die Frage nach der Autorschaft zu stellen. Doch damit
sollte er sich, wie es bis in jüngste Zeit immer wieder geschah, nicht
begnügen. Denn ob Vergil jeweils als Verfasser gelten darf oder nicht —
jedes der neun opuscula, bei denen seine Autorschaft móglich tst, ver-
dient es unbedingt, um seiner selbst willen als ganzes interpretiert zu
werden, und das wurde bisher nur im Falle des Culex'”, der Aetna", der
Copa", der Ciris? des Priapeums Quid hoc noui est?" sowie des
Moretum! versucht. Überdies erfolgte es außer beim Moretum — wie
zur Aeneis verfaßte Richard Heinze auch hier einen „Klassiker“ — erst
in neuerer Zeit und lieferte ebenso wie die Prolegomena der jüngeren
Kommentare und Einzelausgaben' nicht mehr als erste Ansätze.
? Prop. 2.34.61-80; Ov. Am. 1.15.25; [Verg]. Aen. *1-4; VSD ed. Brugnoli/Stok
(1997), 34 $ 36 (7 Grabinschrift Vergils).
'^ vgl. dazu S. 30ff. und S. 226 Anm. 7.
'! VSD ed. Brugnoli/Stok (1997), 25 $ 17. Vgl. dazu u. S. 69 und S. 225.
"^ Güntzschel (1972); Ross (1975b), 237-53; Ax (1984); Most (1987).
I? Effe (1977); Goodyear (1984).
^ Völkl (1968); Henderson (2002).
13 Gall (1999).
'é Obermayer (1998), 290-4.
" Heinze (1972); Ross (1975b), 254-63; Gowers (1993), 46-8; Küppers (1993); Fitz-
gerald (1996); Horsfall (2001).
"5 Hervorzuheben sind hier: Dirae: Van der Graaf (1945); Fraenkel (1966) [nur 1-103];
Culex: M. Schmidt (1959); Aetna: Richter (1963); Goodyear (1965); Copa: Good-
year (1977); Franzoi (1988); Elegiae in Maecenatem: Schoonhoven (1980); Ciris:
Knecht (1970); Lyne (1978); Catalepton: Westendorp Boerma (1949-63); Priapeum
Quid hoc noui est?: Franzoi (1998y; Moretum: Perutelli (1983); Kenney (1984).
xii
Von dieser Forschungssituation ausgehend, bemühen sich die Ver-
fasser der neun Aufsätze des vorliegenden Sammelbandes, je einen
Text weit stürker als es bisher geschehen ist, mit Hilfe von Methoden
der modernen Literaturwissenschaft zu erklüren, also vor allem die
Struktur, das Verhältnis von Form und Gehalt, Intertextualität und im-
manente Poetik zu untersuchen. Dabei bleibt das Autorproblem nicht
ausgespart'”, aber es findet eine Neuakzentuierung der vom Leser stets
an den narrateur eines Textes zu stellenden Frage Quis ille? (Apul.
Met. 1.1.2) statt: Einig darin, daß es sich in allen neun Fällen um Pseud-
epigraphen handelt — das wird jeweils begründet —, machen sich die
neun Untersuchungen Erkenntnisse zunutze, die man jüngst zu dieser
„Gattung“ gewonnen hat”. Sie raten dazu, Vergil als zum Leser Spre-
chenden zunächst in Betracht zu ziehen, aber nicht die historische Ge-
stalt, die pascua rura duces ,,sang", sondern gewissermaßen ihre perso-
na. Denn als solche präsentiert sich der Verfasser eines Textes der Ap-
pendix Vergiliana dann, wenn er den Anschein erweckt, er sei mit dem
historischen Vergil identisch, also als Vergilius impersonatus spricht.
Hatte man Autoren, die sich in dieser Weise die Maske eines anderen
Autors aufsetzen, früher als Fülscher abqualifiziert und schon deshalb
eine interpretatorische Auseinandersetzung mit ihren Werken vermie-
den, so fragt man heute — und damit schafft man sich eine tragfähige
Basis für die Exegese — nach den Gründen des Rollenspiels.
Beim Versuch, diese Frage zu beantworten, kann sich herausstellen:
Das Rollenspiel eines sogenannten ,,Fülschers" braucht von demjenigen
einer persona, die wie z.B. in den Georgica nicht von einem anderen
Autor als demjenigen des vorliegenden Werkes geborgt ist, gar nicht
sehr weit entfernt zu sein — außer in einem (freilich sehr wichtigen)
Punkt: Während der Leser in dem Gedicht über den Landbau hinter der
Maske des Lehrdichters den realen Autor ohne weiteres wiedererkennt
— u.a. weil beide denselben Namen tragen und kein Zweifel daran be-
steht, daß sie ein und dieselbe Person sind -, ist ihm dies bei einem
Text wie dem Culex Publii Vergilii Maronis (so z.B. die Handschrift
C^ und vermutlich bereits der Urtext) meist zunächst nicht möglich.
? Da die Appendix Vergiliana noch nie in ihrer Gesamtheit wirklich interpretiert wur-
de, also relativ wenig bekannt ist, spricht jeder Aufsatz wenigstens in Kürze auch
weitere der traditionell mit seinem Text verbundene Probleme an, z.B. die Übertiefe-
rungssituation oder die Datierungsversuche. Handbuchartike! können die Beiträge zu
diesem Sammelband freilich nicht ersetzen; hier ist nach wie vor auf Büchner (1955)
Zu verweisen.
2 S.u. S. 148ff.
* Clausen et al. (1966), 19.