Table Of ContentAdolf Portmann: Alles fließt
Adolf Portmann
Alles fließt
Rückblick und Ausblick eines Biologen
Springer Basel AG
©Springer Basel AG 1973
Ursprünglich erschienen bei Bitkhäuser Verlag Basel 1973
Softcover reprint of the bardeover 1st edition I 97 3
ISBN 978-3-0348-6487-9 ISBN 978-3-0348-6486-2 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-0348-6486-2
Vorwort
Über ein halbes Jahrhundert am Rhein, als Lernender und
dann als Biologe in der alten Universität - das schafft ein
Verhältnis zu unserem Strom, von dem diese Blätter der
Erinnerung zeugen möchten. Als diese Betrachtungen zum
erstenmal als Radiosendungen gesprochen wurden- 1959 -,
da war es schon deutlich genug, wie rasch die Entwicklung
der Technik unseren Lebensraum verändert. - Aber wieviel
düsterer müßte heute gar manches dargestellt werden, wo,
was einst Fortschritt hieß, zum rasenden Amoklauf, zur
Bedrohung unseres Daseins geworden ist.
Das kleine Buch erscheint hier in seiner ursprünglichen
Form-nur wenige Einzelheiten, die allzusehr vom ursprüng
lichen Zeitpunkt der Radiosendungen bedingt waren, sind
geändert worden.
Wir haben darauf verzichtet, den Text durch sachbe
zogene Bilder zu illustrieren. E. Keller-Venton hat eine
Folge von Holzschnitten beigesteuert, die als «Thema mit
Variationen» meinen Rückblick begleiten. Auf ihre Weise,
in Farbe und Form sprechen auch sie vom stilleren Wandel
der Natur, den der Untergrund mit seiner feinen Maserung
symbolisiert, und vom Gegensatz des heftigeren Eingriffs,
den der Menschengeist bewirkt.
Es ist mir eine Freude, daß meine Betrachtungen, die ja
auch ein Dank an die Stadt sind, in der ich wirken durfte,
als ein Glied in der Kette der «Basler Drucke» des Birk
häuser Verlags erscheinen dürfen.
Basel, im Herbst 1973 Adolf Portmann
I
In meiner Bubenzeit fuhren auf dem Rhein die großen Flöße
aus Schwarzwaldtannen talwärts, und ihre langen Steuer
ruder, von sicheren Armen gelenkt, beschäftigten meine
Phantasie als Instrumente männlicher Kraft.
Nach langen Wanderfahrten bin ich später wieder am
Rhein gelandet. Vom Arbeitsfenster in der Alten Universität
folgt aber der Blick seit Jahren den großen Schleppschiffen -
wie sie machtvoll dem Strom entgegenfahren - ein Bild, nicht
weniger kraftvoll als das der Flöße - und doch wie anders.
Von solchen Gegensätzen wollen unsere Betrachtungen
ausgehen, von Kontrasten, wie sie sich mit den Jahrzehnten
im Leben eines jeden von uns darbieten. Es geht dabei nicht
in erster Linie um das persönliche Erinnern - das wäre kaum
der Rede wert -, nein, wir wollen von solchen Kontrasten zu
einer Umschau in unserer Zeit gelangen, zu Problemen in
unserem Denken und Tun, zum Ausblick auf Erscheinungen
dieser Gegenwart, auf die aus der Erinnerung an V ergangenes
ein eigenes Licht fällt. Daß die Umschau ganz besonders dem
Feld der Lebensforschung gilt, muß ich wohl nicht sagen. Sie
ist doch schließlich der Alltag meiner Arbeit.
Wo soll man anfangen bei all den Umwandlungen, die
sich in diesen Jahrzehnten vollzogen haben? Wir greifen
irgendeine der Fragen heraus- warum nicht für heute den
Wandel der Zeitvorstellungen-überhaupt den Umgang mit
der Zeit.
Und da wir im Zeitalter nach Darwin leben, so mag uns
zunächst der Streit um das Erdalter daran mahnen, wie rasch
sich solche Vorstellungen ändern und wie auch hier alles im
Flusse ist.
Wir wollen gar nicht bis dorthin zurückschauen, wo
sich - noch um I 700 - die Kirchengewaltigen stritten, ob die
Erde etwa 4000 oder 46oo Jahre alt sei- auch wollen wir
nicht die ersten kühneren Schätzungen kritisieren, die um
1750 zögernd 75 ooo Jahre vorschlugen oder gleich Jahrmil
lionen annahmen - das alles war damals - wissenschaftlich
gesehen - kaum begründet.
Erst um 1830 haben die Geologen, vor allem der Eng
länder Charles Lyell, eine einigermaßen begründete Zeitfolge
in der Erdgeschichte bestimmt. Etwa 2.40 Millionen Jahre I
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Das war aber nicht etwa das Alter der Erde - so weit wagte
sich Lyell nicht ins Unbekannte. Nein- die Millionen,
2.40
das war die Zeit, während der in steter Folge geschichtetes
GesteinamBoden der Weltmeere abgelagert worden ist. Um
I 8 5o hat diese Zeitvorstellung gesiegt. Darwin und Wallace
haben damals die heute allgemein bekannte Theorie begrün
det, welche eine langsame Umwandlung der Tier- und Pflan
zenarten im Laufe der Erdgeschichte annimmt. Für diese
Lehre waren die Ideen von Lyell besonders wichtig, da sie
die langen Zeiträume zur Verfügung stellten, welche die
neue Theorie fordern mußte. So bauten beide, Darwin wie
Wallace, auf Lyells Zahlen als auf einem festen Wissens
grunde.
Aber glauben Sie ja nicht, es gehe jetzt in einem Zuge
aufwärts auf der Leiter des Wissens! Kaum hatte der Darwi
nismus das Feld erobert, da begannen die Physiker die Lyell
schen Zeitvorstellungen energisch zu bekämpfen. Helmholtz,
einer der Größten, und Lord Kelvin in England - beide setz
ten das Alter der Gesteinsschichten von auf höchstens
2.40
schließlich auf zo, ja zeitweise auf Millionen Jahre
100, 10
herunter. Sie hatten vom damaligen Standpunkt der Physik
sicher recht, vom heutigen aus unrecht. Wahrheit wird ja
nur langsam auf solchen Umwegen gefunden.
Als ich im ersten Staunen über unsere Welt die Gassen
Kleinbasels und die Ufer des Rheins und der Wiese erforschte,
da war eben, ohne daß mich das damals bedrückt hätte, der
Tiefstand der Erdzeit-Schätzung mit Millionen erreicht.
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Die Wissenden waren überzeugt, daß die Darwinisten jetzt
schweres Spiel haben würden. Aber es ging noch eine be
trächtliche Zeit, bis sich die neuen «G ewißheiten » herum
gesprochen hatten.
Der damals vielgelesene Wilhelm Bölsche hatte uns in
volkstümlichen Werken die Ideen Darwins vermittelt und
unsere leicht entzündbaren Gemüter zu begeisterten Darwi
nisten gemacht. Als ich damals zu begreifen begann, wie sich
das Leben auf Erden entwickelt in ungezählten kleinen
Schritten - da ahnte ich nicht, wie bald ich umzulernen hatte.
Denn inzwischen hatten viele Darwinisten bereits umgelernt
- den Physikern mußte man es doch glauben, wenn sie uns
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Biologen nur noch Millionen als Erdalter zur Verfügung
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stellten! So hat denn der holländische Botaniker de V ries zu
Anfang des neuen Jahrhunderts eine Mutationslehre verkün
det, die nicht wie Darwins Theorie mit sehr allmählichen
Veränderungen rechnete, sondern mit ganz beträchtlichen
Sprüngen in der Umgestaltung des Lebendigen. Durch diese
großen Sprünge hoffte de Vries mit Lord Kelvins mageren
Millionen Jahren auszukommen. Viel später habe ich in
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Darwins Briefen gelesen, wie sehr er schon 1870 an diesen
Sorgen gelitten hat. Um 1871 schreibt er seinem Mitkämpfer
Wallace: «<ch habe diese neue Grundvorstellung vom ver
kürzten Alter von Erde und Sonne noch nicht verdauen
können.»
Um 1900 war im Lager der Entwicklungsforschung diese
Verdauung vollzogen. Das ist eine verwickelte Geschichte
gewesen, und es wurde im Darwin-Jahr 1959 wenig von
diesen frühen Wehen und Störungen berichtet, weil alles
heute wieder so ganz anders tönt und der Fortschritt der
Forschung ja doch besonders gern als geradliniger Aufstieg
dargestellt wird.
Die Erinnerung an jene Zeit führt mich zurück ans
Rheinufer, an die Mündung der Wiese. Dort blühten damals
besonders schön und reich die hellen gelben Nachtkerzen,
welche uns angehenden Biologen eine Weile recht viel zu
schaffen machten. Ich liebte diese gelben Blumen, nicht al
lein, weil sie aus Nordamerika bei uns eingewandert sind
und dadurch schon früh allerhand Fernweh in Bewegung
setzten. Nein - entscheidend war für diese Nachtkerzenliebe
und ist es noch immer, daß das Lichtgelb der großen Blumen
zu den Sommerabenden am Strom gehörte, zum Duft der
hunderterlei Unkräuter, zum Blick über den strömenden
Rhein ins Elsaß hinüber - wieder in Fernen!
Die lichten Nachtkerzen haben mir jene Zeit besonders
verklärt, wo ich das Naturbild von der frühen darwinistischen
Zeit auf Mutationstheorie, auf die Theorie der großen
Sprünge umbauen mußte, denn gerade mit dieser Blume ar
beitete de Vr ies; gerade an ihr hat er die großen Sprünge der
lebenden Natur demonstriert. Noch heute ist ihr Name für
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mich umgeben vom unvergänglichen Licht jener Sommer
abende.
Was tut's, daß die Erbforschung später herausfand, es
sei nichts mit diesen Mutationen bei den Nachtkerzen -
deren Formenwandel müsse ganz anders aufgefaßt werden!
Solche Wechsel der Meinungen können ja recht plötzlich
kommen! So ging es auch diesmal. Während wir uns emsig
auf Großmutationen umstellten, hatten sich ganz vorn an
der Front der wissenschaftlichen Arbeit zwei folgenschwere
Neuerungen ereignet.
Einmal haben Zoologen und Botaniker entdeckt, daß es
in beträchdicher Zahl winzig kleine, unscheinbare und doch
erbliche Mutationen gibt und daß diese viel wichtiger sind
als die großen Sprünge. Und wie auf Verabredung haben die
Physiker in denselben Jahren mit den ersten Erkenntnissen
der Atomspaltung den Biologen auch die langen Zeiträume
wieder geschenkt, die seinerzeit Darwin gebraucht hatte.
Diesmal gab es ein ganz gehöriges Geschenk: gleich etwa
5o o MillionenJahre für die Zeit der Ablagerung von Schicht
gesteinen im Meer - Milliarden für die Entstehung des
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Lebens, 41/2 Milliarden für das Erdalter wurden jetzt «mo
dern». Dieser Ausdruck ist nicht von mir - ich endehne ihn
mit Absicht dem Bericht eines Physikers, der von den Schät
zungen spricht, die jetzt eben «modern» seien. Er sagt es
im klaren Wissen darum, daß solche Meinungen sich wan
deln; fügt aber beschwichtigend hinzu, die erdgeschichdiche
Zeitrechnung scheine sich jetzt so langsam gegen eine Zone
der Sicherheit hin zu entwickeln. Nun, die Jüngeren unter
unseren Lesern werden es wohl noch erleben, wie es mit die
ser Zone der Gewißheiten steht. Ich möchte aber doch nicht
verhehlen, weshalb ich einigen Zweifel über solche Beruhi
gungen hege.
Vor nicht so langer Zeit hatten die Forscher, die es wis
sen müssen, den Beginn der jüngsten geologischen Zeit (des
sog. Pleistozäns) ungefahr vor einer Million Jahren angesetzt
und das Ende der letzten großen Eiszeiten auf etwa ooo
20
Jahre vor unserer Gegenwart fixiert. Vor wenigen Jahren
sind diese Zahlen neu bestimmt worden. Diesmal sind sie
aber nicht etwa gewachsen, wie die Jahrmillionen, die uns
li