Table Of ContentAndre Brodocz/Gary S. Schaal (Hrsg.)
Politische Theorien der Gegenwart
Andre Brodocz
Gary S. Schaal (Hrsg.)
Politische Theorien
der Gegenwart
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1999
ISBN 978-3-322-97433-4 ISBN 978-3-322-97432-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-97432-7
© 1999 Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei Leske + Buderich, Opladen 1999
Softcover reprint of the bardeover Ist edition 1999
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
von Andre Brodocz & Gary S. Schaal....................................................... 7
Kapitel I
Die politische Theorie des politischen Liberalismus: John Rawls
von Peter Niesen ....................................................................................... 17
Kapitel ll
Die politische Theorie des Kommunitarismus: Charles Taylor
von Hartmut Rosa .. ........ ............ ....... ... .. . ...... ..... .................. ..................... 43
Kapitel ITI
Die politische Theorie der Deliberation: Jürgen Habermas
von Gary Stuart Schaal & David Strecker................................................ 69
Kapitel IV
Die politische Theorie der Dekonstruktion: Jacques Derrida
von Thorsten Bonacker ........... ...... .......... ......... ......... .... ..................... ....... 95
Kapitel V
Die politische Theorie des zivilgesellschaftlichen Republikanismus:
Claude Lefort und Marcel Gauchet
von Oliver Marchart.................................................................................. 119
Kapitel VI
Die politische Theorie der Hegemonie: Emesto Laclau und
Chantal Mouffe
von Urs Stäheli.......................................................................................... 143
KapiteiVIT
Die politische Theorie des Pragmatismus: Richard Rorty
von Thomas Noetzel .................................................................................. 167
Kapitel VITI
Die politische Theorie des Neo-lnstitutionalismus:
James March und Johan Olsen
von Andre Kaiser....................................................................................... 189
6 Inhalt
Kapitel IX
Die politische Theorie der reflexiven Modernisierung:
Anthony Giddens
von Jörn Lamla ......................................................................................... 213
Kapitel X
Die politische Theorie des Neo-Marxismus: Bob Jessop
von Hans-Jürgen Bieling........................................................................... 239
Kapitel XI
Die politische Theorie der lnterpenetration: Richard Münch
von Carsten Stark...................................................................................... 263
Kapitel XII
Die politische Theorie des Feminismus: Judith Butler
von Christine Weinbach ............................................................................ 287
KapiteiXill
Die politische Theorie des Rational Choice: Anthony Downs
von Joachim Behnke .................................................................................. 311
Kapitel XIV
Die politische Theorie autopoietischer Systeme: Niklas Luhmann
von Andre Brodocz .................................................................................... 337
Hinweise zu den Autoren ....................................................................... 361
Einleitung
Andre Brodocz und Gary S. Schaal
Die zeitgenössische politische Theorie ist unübersichtlich. Ein Blick in die
Literatur offenbart eine Vielzahl divergierender Theorieangebote, die sich in
rasanter Geschwindigkeit auseinander bewegen. Das vorliegende Buch möchte
diese Unübersichtlichkeit innerhalb der Theorieentwicklung reduzieren und
einen Überblick über die politischen Theorien der Gegenwart liefern. Damit
ein solches Vorhaben überhaupt gelingen kann, müssen im Vorfeld zumin
dest die folgenden drei Fragen adressiert werden: Was ist politische Theorie?
Existieren angesichts der Pluralität politischer Theorien plausible Auswahl
kriterien, um die "relevanten" Theorieangebote identifizieren zu können?
Welcher Zeitrahmen umfaßt die "Gegenwart"?
Worin besteht- trotz der internen Divergenzen und Pluralisierungsten
denzen - das Konstituierende für das Label "politisch"? Orientiert man sich
zunächst an der Titulierung, dann lassen sich darunter jene Ansätze verste
hen, die eine Theorie zum Objektbereich ,Politik' formulieren. Dies ist je
doch so allgemein, um nicht zu sagen tautologisch, gefaßt, daß es kaum mehr
als einen - sicherlich konsensuellen -Ausgangspunkt bezeichnet. Welchen
"Gegenstand" der Begriff ,Politik' überhaupt adressiert, was Politik von an
deren sozialen "Gegenständen" wie z.B. Wirtschaft, Wissenschaft oder Reli
gion unterscheidet, ist bereits höchst umstritten (vgl. Lutz 1992: 17ff.). Kann
Politik überhaupt als solch ein eigenständiger "Gegenstand" verstanden wer
den, oder ist Politik (bzw. das Politische) nicht vielmehr eine bestimmte Ei
genschaft, Qualität oder spezifische Verbindung der genannten sozialen "Ge
genstände" (Heller 1991)? Das Gemeinsame politischer Theorien könnte aber
auch in der Methodik zu finden sein, die das "Politische" erschließt, selbst
wenn dessen genaues Verständnis umstritten ist. Doch auch hier läßt sich
kein expliziter Konsens finden (vgl. Held 199la: 13; Hartmann 1997: 30).
Das Gemeinsame aller Ansätze, die gegenwärtig als politische Theorien fir
mieren, ist demnach weder ein identisch anzugebender Gegenstand noch eine
identische Methode. Läßt sich angesichts dieses eher resignativ stimmenden
Überblicks das Gemeinsame in der zeitgenössischen politische Theorie noch
formulieren? Oder ist es mittlerweile, wie Jürgen Hartmann (1997: 237) zu
8 Andre Brodocz und Gary S. Schaal
bedenken gibt, nicht sinnvoller, wenn man nicht mehr von politischer Theo
rie, sondern nur noch von "politikwissenschaftlichen Theorien" spricht? Zu
notieren ist zunächst, daß ein substantieller oder methodisch-prozeduraler
Konsens nur mit Mühe identifizierbar ist. Da aus der Akteursperspektive des
Theoretikers jedoch offensichtlich eine Vielzahl von Motivationen existieren,
die eigene Theorie als "politische" zu charakterisieren, bestünde eine Auflö
sung des Dilemmas darin, aus der Beobachterperspektive jene Theorien als
"politische" zu verstehen, die sich selbst als solche bezeichnen. Eine solche
Konstruktion enthebt den Beobachter der Notwendigkeit, intersubjektiv ge
teilte Kriterien hinsichtlich des Objektbereiches oder der Methode politischer
Theorien spezifizieren zu müssen. Eine zweite Auflösung dieses Dilemmas
besteht im Rekurs auf die Selbstbeschreibungen, die die gegenwärtige Dis
kussion politischer Theorie erzeugt. Jürgen W. Falter und Gerhard Göhler
(1986; vgl. daran anschließend auch Steiert 1994) zeigen anband einer In
haltsanalyse deutschsprachiger Fachzeitschriften, daß die politische Theorie
in drei Bereiche differenziert werden kann: Metatheorien, systematische
Theorien sowie politische Philosophie und Ideengeschichte. Sieht man von
der rein selbstreflexiven Kategorie der Metatheorie ab (siehe hierzu Noetzeli
Brodocz 1996), wird an Falters und Göhlers Dreiteilung deutlich, daß sich
die politischen Theorien der Gegenwart durch eine empirische und eine nor
mative Dimension auszeichnen lassen: Die zeitgenössischen politischen
Theorien werden darum oft primär nach normativen und empirischen Theori
en kategorisiert (vgl. z.B. Müller 1994; Lutz 1992: 143ff.).
Die Auswahl der politischen Theorien, die Hoffnung gar, daß es sich um
"relevante" Theorien handelt, ist angesichts der Probleme bei der Bestim
mung des Gemeinsamen von politischen Theorien eine weitere Herausforde
rung. Die Selektionskriterien können nur dem akademischen Diskurs selbst
entnommen werden, d.h. es muß eine Beobachterperspektive auf den meta
theoretischen Diskurs eingenommen werden. Das entscheidende Kriterium
für unsere Auswahl war die Tatsache, daß eine Theorie in der akademischen
Diskussion nachhaltig vertreten sein muß, daß sie angewandt wird, Zustim
mung, kontroverse Diskussionen oder Dissens provoziert. In diesem Sinne ist
die vorliegende Auswahl getroffen worden. Jede Auswahl ist kontigent; wir
hoffen jedoch, daß sie nicht arbiträr ist.
Damit ist implizit bereits der Zeithorizont angesprochen: Was sind politi
sche Theorien der Gegenwart? Innerhalb der Philosophie wird die Wieder
belebung der politischen Philosophie als akademische Disziplin mit der Ver
öffentlichung von "Eine Theorie der Gerechtigkeit" von John Rawls 1971
datiert. Diesen Zeithorizont hat auch dieses Buch ins Auge gefaßt. Präsentiert
werden maßgeblich politische Theorien von Zeitgenossen, solche, die sich
innerhalb der letzten dreißig Jahre in der Diskussion befunden haben und die
se bis heute maßgeblich prägen sowie vor allem solche, die sich gegenwärtig
in der Diskussion befinden. Damit wird natürlich nicht behauptet, daß die
präsentierten Theorien sich jenseits von akademischen Konjunkturzyklen be-
Einleitung 9
finden und sich auf Dauer in der Theoriediskussion etablieren werden; viel
leicht enden sie als reine Fußnote in der Theoriegeschichte. Darüber zu ur
teilen oder dies zu präjudizieren steht uns aber nicht zu.
Das vorliegende Buch versteht sich als Lehrtext für Studierende und als
Überblicksband für Kolleginnen und Kollegen im Bereich der politischen
Theorie. Damit er als Lehrtext fungieren kann, existieren zwei Strukturie
rungsprinzipien: Einerseits folgen die einzelnen Beiträge - mit kleinen Ab
weichungen - einem identischen Strukturprinzip, das direkt im Anschluß
dargestellt wird. Andererseits ist die Abfolge der Beiträge durch eine These,
die abschließend präsentiert werden soll, motiviert. Die Unübersichtlichkei
ten in der zeitgenössischen politischen Theorie speisen sich paradoxerweise
auch daraus, daß einerseits einige größere Theoriestränge eindeutig zu identi
fizieren sind, so z.B. der Kommunitarismus, der politische Liberalismus, der
Neo-Marxismus u.a., während andererseits innerhalb dieser großen Stränge
Diversifizierungs- und Pluralisierungsprozesse stattfinden, die einen Theorie
strang in verschiedene Ansätze ausdifferenzieren. Ohne Frage bestehen dabei
zentrale "Familienähnlichkeiten", die modellartige Darstellung eines Theo
riestrangs wäre jedoch immer auch Einebnung dieser internen Unterschiede.
Daher wurde in diesem Band - quasi paradigmatisch - für jede Theoriefami
lie ein "Referenztheoretiker" gewählt.
Im ersten Abschnitt der Beiträge wird der Referenztheoretiker einerseits
innerhalb seiner Theoriefamilie, andererseits in seinen intellektuellen Kontext
situiert. Im zweiten Abschnitt erfolgt eine Rekonstruktion des Referenztheo
retikers. Besondere Berücksichtigung finden dabei zentrale Fragen der zeit
genössischen politischen Theorie: Welcher Begriff des Politischen liegt vor,
welche Gerechtigkeitsvorstellungen existieren und wie kann Demokratie als
politisches System begründet werden? Welches ist die notwendige oder em
pirisch zugeschriebene Rationalität und/oder Tugend seitens der Bürger?
Welches sind die Aufgaben von Demokratie, welches ihre normativen Be
wertungsstandards und welche institutionellen Arrangements sind vorgese
hen, diese zu unterstützen? Der dritte Abschnitt diskutiert Kritik am Refe
renztheoretiker, und zwar- sofern dies konsistent möglich ist-differenziert
nach interner, d.h. aus der gleichen Theoriefamilie stammender, und externer
Kritik. Das vierte Segment öffnet - auf Basis der artikulierten Kritik - das
Tableau für den Stand der Debatte und damit für alternative Theorieentwick
lungen innerhalb des Paradigmas. Abgerundet wird jedes Kapitel mit einer
kommentierten Literaturliste, die weniger den Anspruch auf Vollständigkeit
erhebt, als vielmehr eine Schneise in den mitunter unübersichtlichen Dschun
gel der Sekundärliteratur schlagen soll.
Woran kann sich eine Systematik für die Anordnung der einzelnen Ka
pitel orientieren? Im Angesicht der oben angesprochenen Unübersichtlichkeit
dient die Unterscheidung von empirischen und normativen Theorien als er
ster Anhaltspunkt. Dabei gelten die normativen Theorien als diejenigen, die
Antworten auf die Frage nach der Begründbarkeif von Politik geben. Empi-
10 Andre Brodocz und Gary S. Schaal
rische Theorien werden demgegenüber thematisch, wenn die Frage nach der
empirischen Verfaßtheit von Politik beantwortet werden soll. Diese Ordnung
ist allerdings nicht unproblematisch, legt sie doch den Eindruck nahe, daß
normative politische Theorien nicht empirisch und empirische politische
Theorien nicht normativ sind. Dabei drängt sich schon an der Unterscheidung
von normativ und empirisch die Frage auf, ob diese selbst eine empirische
Unterscheidung oder eine normative Unterscheidung ist. Zwischen der Frage
nach der Begründbarkeil und der Frage nach der empirischen Verfaßtheit von
Politik sehen wir dagegen eine konstitutive Spannung, die zunächst zugunsten
der einen oder der anderen Seite aufgelöst werden muß - ansonsten kommt
eine politische Theorie nicht auf den Weg, sie verharrt in der Unentschieden
heit. Die politischen Theorien der Gegenwart sehen wir dadurch ausgezeich
net, daß sie die Spannung zwischen der Begründbarkeil und der empirischen
Verfaßtheit von Politik theorieintern reflexiv werden lassen, nachdem sie sich
auf eine Perspektive als Ausgangspunkt festgelegt haben.1 Politische Theori
en, die mit der Frage nach der Begründbarkeit beginnen, wenden sich an
schließend der Spannung zwischen den Möglichkeiten dieser Begründung
und der empirischen Verfaßtheit \COn Politik zu. Bestehende politische Insti
tutionen, Ordnungen oder Prozeduren werden hier entweder vor dem Hinter
grund theoretisch explizierter Standards evaluiert oder auf Basis dieser Stan
dards neu entworfen (institutional design). Politische Theorien, die mit der
Frage nach der empirischen Verfaßtheit von Politik beginnen, nehmen sich
dementsprechend im Anschluß daran die Spannung zwischen dieser Verfaßt
heil und der Möglichkeit ihrer Begründung an: Die Art und Weise, wie Poli
tik begründet wird und werden kann, ist in dieser Herangehensweise immer
nur ein Ausdruck der Möglichkeiten, die das konkrete empirische Institutio
nengefüge und die Gesellschaftsstruktur zulassen. Die Angemessenheil dieser
Begründungen muß empirische Problemlagen der Politik, sozio-moralische
Dispositionen der Bürger, u.ä. berücksichtigen. Als Strukturierungsprinzip ist
deshalb die Art und Weise gewählt worden, wie innerhalb der politischen
Theorien die konstitutive Spannung zwischen der Frage nach der Begründ
barkeil und der Frage nach der empirischen Verfaßtheit von Politik aufgelöst
wird. Der erste Teil umfaßt danach jene zeitgenössischen politischen Theori
en, die mit der Frage nach der Begründbarkeil von Politik ansetzen.
Die Theorie des politischen Liberalismus von John Rawls (Kapitel I, ver
faßt von Peter Niesen) sucht explizit nach einer Begründung des Aufgaben
bereiches und Zuschnittes des Politischen, fundiert diese jedoch in elementa
ren Gerechtigkeitsgrundsätzen. Die Begründung der Gerechtigkeitsgrundsät
ze ist dabei doppelt verankert: Einerseits sind sie Resultat eines heuristischen
In eine ähnliche Richtung geht Andrew Vincents (1997a: 5, Hervorhebung im Origi
nal) Unterscheidung von "inclusive and exclusive readings of the theory-practice link.
The latter brings pristine theory to politics, the former finds or retrieves theory from
political practice."