Table Of ContentWISSENSCHAFTLICHE ABHANDLUNGEN DER ARBEITSGEMEINSCHAFT
FOR FORSCHUNG DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN
Band 26
WISSENSCHAFTLICHE ABHANDLUNGEN DER ARBEITSGEMEINSCHAFT
FOR FORSCHUNG DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN
Band 26
VILHO NIITEMAA
PENTTI RENVALL
ERICH KUNZE
OSCAR NIKULA
Finnland -
gestern und heute
HERAUSGEGEBEN
1M AUFTRAGE DES MINISTERPR.ASIDENTEN Dr. FRANZ MEYERS
VON STAATSSEKRET.AR PROFESSOR Dr. h. c. Dr. E. h. LEO BRANDT
Finnland -
gestern und heute
von
Vilho Niitemaa
Pentti Renvall
Erich Kunze
Oscar Nikula
SPRINGER FACHMEDIEN WIESBADEN GMBH
Das Manuskript wurde am 18. Juli 1962
der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen
von Professor Dr. Hermann Conrad und Professor Dr. Ulrich Scheuner vorgelegt.
Vorgetragen von Professor Dr. Erich Kunze
ISBN 978-3-663-00532-2 ISBN 978-3-663-02445-3 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-02445-3
© 1963 by Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei WestdeutscherVeriag, Köln und Opladen 1963
INHALT
Prof. Walther Hubatsch, Universitat Bonn
Vorwort ............................................ 7
Prof. Vilho Niitemaa, Universitat Turku
Adel und Lehnswesen in Finnland ...................... 9
Prof. Pentti Renvall, Universitat Helsinki
Die Entstehung einer Staatsnation: Finnland im
18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 23
Prof. Erich Kunze, Universitat Helsinki
Deutsch-finnische Geistesbeziehungen im 19. Jahrhundert .... 35
Prof. Oscar Nikula, Schwedische Akademie Abo-Finnland
Finnlands Ostgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 53
VORWORT
Vier Gelehrte aus Finnland haben zu aktuellen Problemen des Landes Stel
lung genommen. Finnlands Bedeutung in Geschichte und Gegenwart wird
sozial, historisch, kulturell und politisch untersucht. Diese Darlegungen zei
gen, daB Finnlands Entwicklung eng mit der skandinavischen Geschichte zu
sammenhangt, daB im Grenzraum Nordeuropas die gleichen bewegenden
Krafte sichtbar sind, wie sie uberall den Kontinent durchziehen, daB zwar
die Besonderheit der geschichtlichen Aufgabe eigenstandige und typisch fin
nische Losungen hervorgebracht hat, daB aber die Behauptung und Bewah
rung des Eigenen gegenuber den Nachbarn niemals nur Abwehr und Kampf
bedeutet - so wenig es daran gefehlt hat -, sondern stets auch Angleichung,
Priifung von Anregungen, Vermittlung und Austausch. So ist die Geschichte
dieses zahlenmaBig kleinen, aber zahen, lebensvollen, tapferen Volkes ein
gebettet in die Beziehungen zu Rumand und Schweden, in den Kranz der
Ostseelander, in die Geschichte Europas, der es als ein untrennbarer Bestand
teil von starker, urwuchsiger Wirkungskraft zugehort.
Die zahlreichen engen Beziehungen Finnlands zur deutschen Geschichte
und Kultur haben sich in den letzten Jahren verstarkt und vertieft. In die
sem Zusammenhang ist es zu begruBen, daB finnische Wissenschaftler Vor
trage und Veroffentlichungen in deutscher Sprache veranstalten, wodurch
dem deutschen akademischen Publikum die Teilhabe an dem Fortschritt der
Forschung in Finnland erleichtert wird.
Die in diesem Band zusammengefaBten Untersuchungen gehen auf Vor
trage zuriick, die an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universitat zu Bonn
in den J ahren 1957 bis 1961 gehalten wurden. Sie sind nochmals uberarbeitet
und aufeinander abgestimmt worden. In der 90. Sitzung der Abteilung fur
Geisteswissenschaften der Arbeitsgemeinschaft fur Forschung des Landes
Nordrhein-Westfalen in Dusseldorf am 18. Juli 1962 haben Prof. Dr. Her
mann Conrad und Prof. Dr. Ulrich Scheuner diese Abhandlung vorgelegt, und
Prof. Dr. Erich Kunze hat daraus vorgetragen. Die Drucklegung ist darauf
hin von der Arbeitsgemeinschaft fur Forschung, der an dieser Stelle besonders
8 Vorwort
zu dank en ist, durchgefiihrt worden. Es ist zu hoffen, daB diese kleine Publi
kation die gebiihrende Aufmerksamkeit in der deutschsprachigen wissen
schaftlichen Welt findet.
Historisches Seminar
cler Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universidit,
Bonn
Walther H ubatsch
ADEL UND LEHNSWESEN IN FINNLAND
Von Vilho Niitemaa, Turku
1m Jahre 1957 war ein halbes Jahrhundert vergangen, seit sich in Finnland
der Einkammer-Reichstag erstmalig versammelte. Dieses Ereignis bedeutete,
daB sich die gesellschaftlichen Grundlagen des staatlichen Lebens in Finnland
auf eine ganz andere Basis gestellt sahen als friiher. Die standische Gesell
schaft, die iiber ein halbes Jahrtausend bestanden hatte, war damit begraben.
Man war in ein neues Zeitalter mit einer neuen Ordnung eingetreten.
Aber auch die standische Gesellschaft hatte seinerzeit tiberall im Abendland
eine wichtige Aufgabe als Form der sozialen Gliederung gehabt. Wie ihr
Untergang keine nur auf Finnland beschrankte Erscheinung war, so war auch
ihre Entstehung hier kein losgeloster Vorgang. Die standische GeselIschaft
in Finnland hing in allen ihren Phasen mit der europaischen geselIschaft
lichen Entwicklung zusammen.
OberalI schritt an der Spitze dieser Entwicklung als Wegweiser der Adel.
Die Wurzeln seiner Entstehung in Europa gehen bis weit in die Spatantike
und in die Verhaltnisse der altgermanisch.en GeselIschaftsordnung zuriick.
Aus diesen versch.iedenen Elementen entstand schon im Friihmittelalter das
VasalIenwesen. Ein Hoherstehender belehnte den ihm Untergebenen gegen
bestimmte Dienstpflichten mit Land, und so entstand das Lehns- oder Feu
dalsystem. Ober dem bauerlichen Yolk bildete sich eine abgesonderte Ober
klasse heraus. Gleichzeitig loste sich nach dem Siege des Christentums der
Klerus yom iibrigen Yolk als ein besonderer geistlich.er Stand abo Ais dann im
Zeitalter der Kreuzziige noch das privilegierte Stadtewesen entstand und die
Stadtbewohner sich als eigene Gemeinschaften absonderten, war die mittel
al terliche standische Gesellsch.aft mit ihren sozialen Gruppen fertig a usgebildet.
Schon um die Mitte des 11. Jahrhunderts, als das Biirgertum sich noch nicht zu
einer eigenen Gruppe entwickelt hatte, konnte Bischof Gerhard von Cambrai
die ideale Struktur und Tatigkeit der standischen GeselIschaft im Abendland
folgendermaBen charakterisieren: "Das Mensch.engeschlecht ist von Anfang
an in drei Gruppen geteilt, in Beter, Bauern und Kampfer, und jeder dieser
Stande solI den anderen unterstiitzen wie die rechte Hand die linke."
10 Vilho Niitemaa
Aller geschichtlichen Entwicklung in jedem Gebiet geben die ortlichcn Be
sonderheiten ihr eigenes Gepdige. So verhalt es sich auch bei der standischen
Entwicklung. In den zentralen Gebieten des Lehnswesens in Mitteleuropa
erreichte der Feudalismus die groBte Ausdehnung. In Deutschland zersplit
terte sich sogar das Reich in Landesfiirstentiimer, und die Bauern blieben im
Zustand der Leibeigenschaft oder Erbuntertanigkeit, oder sie verfielen all
mahlich in diesen Zustand. Nur in einigen Gegenden, wie in der Schweiz,
in Tirol, in Dithmarschen und in Friesland, gerieten die Bauern nicht in so
groBe Abhangigkeit vom Adel, sondern bewahrten ihre Altfreiheit. Der
Adel erlangte dort keine so groBe Macht wie anderswo.
Ebenso herrschten in den nordischen Landern besondere Verhaltnisse, auch
in Finnland. Trotz ortlicher Besonderheiten ging jedoch die Entwicklung auch
hier im allgemeinen in die gleiche Richtung wie anderswo, wenn auch lang
samer. Eigentlich kann man erst seit dem 14. Jahrhundert von einer stan
dischen Gesellschaft in Schweden-Finnland sprechen. Aber selbst damals
waren die Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen noch recht unbestimmt.
Die standische Gesellschaft hatte auch in Finnland ihre tief in die Ver
gangenheit reichenden ortlichen Wurzeln. Dies gilt in besonderem MaBe fiir
den Adel. Viele Beweise - wie Voionmaa gezeigt hat -liegen dafiir vor. Die
archaologischen Grabfunde zeigen, daB es bereits in den ersten christlichen
Jahrhunderten, nach der Einwanderung der Finnen in ihr heutiges Vater
land, fiihrende Personlichkeiten in der finnischen Gesellschaft gab. Sie waren
mach tiger als die iibrigen, und ihre Graber wurden ihrem Rang gemaB aus
gestattet. Viele Personennamen, wie die des "Cuningas (,Konig') de Rapa
lum" in Saaksmaki im Jahr 1340, des "Burgaltesten ("Linnanvanhin") von
ViI jakkala in Hameenkyro" usw., wei sen auf bestimmte volkstiimliche Fiihrer
personlichkeiten und fiihrende Geschlechter hin, von deren Sonderstellung in
der Gesellschaft noch im historischen Mittelalter ein lebendiges BewuBtsein
vorhanden war. Nach einer historischen Dberlieferung war u. a. der Stamm
vater des mittelalterlichen Geschlechts der Kurki Fiihrer der Pirkkala-Leute
auf ihren Jagd- und Besteuerungsziigen im hohen Norden. Die norwegische
Egilsage berichtet von Faravid, dem Konig der Bewohner von Kainuu.
Ebenso spricht die erste Novgoroder Chronik im Jahr 1240 von Pelgui, dem
Altesten des Landes Izora. Der Entwurf zu einem Vertrag zwischen Novgo
rodern und Deutschen im Jahr 1268 erwahnt den Altesten von Inkere.
SchlieBlich erzahlt eine Dberlieferung, die noch im 16. Jahrhundert lebendig
war, daB ein Mann namens David in Vesilahti sich im Jahr 1438 nach uralter
Weise zum Bauernkonig ausrufen lieB. Auch aus einigen historischen Ur-
Adel und Lehnswesen in Finnland 11
kunden und aus den allgemeinen Verhaltnissen laBt sich schlieBen, daB es bei
den Finnen schon in der Heidenzeit aristokratische Geschlechter gab. Von
deren Nachkommen gehort ein Teil spater zum Adelsstand.
Eine eigentliche Klasse von Freimannern entstand jedoch erst, als Schwe
den-Finn land nach dem kontinental en Vorbild eine schwerbewaffnete Rei
terei ins Leben rief. Da dies groBe Kosten verursachte und die Staatsgewalt
sie nicht aufzubringen vermochte, muBte man seine Zuflucht zu einzelnen
wohlhabenden Bauern nehmen. Konig Magnus Ladulas erlieB deshalb im
Jahr 1279 das sogenannte Statut von Alsno. Nach dies em wurden die waf
fentragenden Manner, die sich zum Reiterdienst verpflichteten, von der
Kronsteuer befreit. Durch das Statut von Telge vom Jahr 1345 wurde dieses
Vorrecht noch in der Weise erweitert, daB die nicht wiederverheirateten
Witwen, die Tochter und die minderjahrigen Sohne der Reiter ohne Dienst
verpflichtung seiner teilhaftig wurden.
Auf Grund dieser Statuten begann das Allodiumrecht sich geschlechterweise
auszuwirken. Dies bahnte den Weg fUr seine Erblichwerdung. Die so ent
stehende bevorrechtete Klasse stand jedoch das ganze Mittelalter hindurch
insofern allen offen, als jeder beliebige wohlhabende Bauer sich bei der
Musterung zum Reiterdienst melden und dadurch sein Gehoft steuerfrei
machen konnte. Ebenso konnte ein solcher Reiter einfach den Reiterdienst
wieder aufgeben und Steuerbauer werden.
In Finnland stabilisierte Konig Magnus Eriksson den bauerlichen Reiter
dienst noch insofern, als er 1351 die Allodien beschlagnahmen lieB, die frUher
steuerpflichtig gewesen, aber nachher eigenmachtig allodial geworden waren.
Ein wenig spater, unter Albrecht von Mecklenburg, begannen auch deutsme
Adlige in Finnland seBhaft zu werden.
Der Dbergang zur Unionszeit urn 1400 bedeutete den Anfang einer neuen
Periode in der Entwicklung des finnischen Adels. Die fUhrenden Manner
Finnlands muBten in den wechselnden politischen Situationen remt selb
standig handeln. Das hatte eine immer starkere Konsolidierung des finnischen
Adels zur Folge. Obwohl die hochsten administrativen i\mter des Landes,
namlich die der Burglehen, meist in den Handen schwedischer und danischer
Aristokraten waren, verblieben die Ubrigen i\mter der Verwaltung und des
Gerimtswesens den einheimischen Adligen. Vor allem waren die meisten
BismOfe von Turku Angehorige finnischer Adelsgeschlechter, z. B. der Ta
vast, Sarkilahti und Kurki. Ais Mitglieder des Reichsrats und durch eigene
bewaffnete Mannschaften hat ten sie eine betrachtliche Macht auch in allge
meinen Reichsangelegenheiten.