Table Of ContentDIE GLOSSEN IN DER LEX SALICA
UND lliE
SPRACHE DER SALISCHEN FRANKEN.
BEITBAG ZUR GESCHICHTE DER DEUTSCm~N
SPHACHEN
VON
D•. H. KERN.
Springer-Science+Business Media, B.V.
1869.
ISBN 978-94-017-6429-2 ISBN 978-94-017-6547-3 (eBook)
DOI 10.1007/978-94-017-6547-3
Softcover reprint of the hardcover 1st edition 1869
HERRN PROF. DR. w. G. BRILL,
IN DANKBARER ERINNERUNG
HE WIDMET
VOM
VERI<'ASSI!JR.
VORWORT.
Mit der Ve röffeiitlichung dieser Schrift hatte ich einen dop
pelten Zweck: einestheils wollte ich mittheilen was ich gefun
den hatte ; anderntheils zeigen, wieviel noch zu finden übrig
bleibt, und dadurch Andre zur weitem Forschung anregen.
Ich setze voraus, dass die meisten Leser die Vorrede von
Jacob Grimm zur Merkelseben Ausgabe kennen und fortwäh
rend zur Vergleichung und Prüfung heranziehen werden. Ue
brigens giebt es unter Grimm' s Resultaten nur wenige, mit
denen ich einverstanden sein konnte, aber eine fortlaufende
Kritik seiner Arbeit zu geben, war nicht meine Absicht; nur
da, wo es mir nothwendig schien, habe ich mich nicht ge
scheut, die Ansichten des grossen Meisters entschieden zu be
kämpfen.
Die Ausgabe der Lex Salica, deren ich mich bedient habe,
ist die von J. Merkel veranstaltete.
Schliesslich muss ich den deutschen Leser noch wegen mei
nes ihm gewiss holperig klingenden Hochdeutsch um Nach
sicht bitten. Viel lieber hätte ich freilich in meiner Mutter
sprache geschrieben, aber das Niederländische ist im Auslande
nur Wenigen bekannt. Da ich mich also doch einer fremden
Sprache zu bedienen hatte , so wählte ich die hochdeutsche,
zumal da ja auch der Gegenstand dieser Schrift nirgends solch
ein lebhaftes Interesse gefunden hat, als gerade in Deutsch
land.
Leiden, März 186\J.
DER VERFASSER.
Die Glossen in der Lex Salica und die Sprache
der salischen Franken.
Wer sich die Mühe gegeben hat zu untersuchen, welche
deutsche Stämme die Confö1eration der salischen Franken ge
bildet und wo sie gewohnt l.aben, muss sich schon von vorn
herein eine ziemlich deutliche Vorstellung von den bei den
Verbündeten herrschenden Mundarten gebildet haben. Bei unsrer
Aufgabe aber ist es besser, ebenso wie Grimm gethan hat,
von der Voraussetzung auszugehen, dass wir über die Mund
arten oder im Allgemeinen über den Hauptdialect der salischen
Franken aus anderweitigen Gründen nichts entscheiden können,
ehe wir sichere dialectische Merkmale in den Glossen zur Lex
Salica gefunden haben. Nachdem uns die Erklärung der einzelnen
Wörter gelungen ist, können wir das Ergehniss zusammenfassen.
Sogleich im Anfange ist es nöthig die Schwierigkeiten,
welche uns entgegentreten, in's Auge zu fassen, und beson
ders, uns klar zu machen, welcher Art die Schwierigkeiten
sind. Unser Hauptaugenmerk soll zuerst auf die Wegschaffung
des grössten Hindernisses gerichtet sein, damit wir nicht mit
grosser Mühe kleines Gestrüpp wegzuräumen uns befleissigen,
während wir das Schlimmste nicht einmal ahnen.
Mit den Resultaten der Grimm'schen Forschung vor Augen,
dürfen wir es nicht für überflüssig halten, einfach, aber ent
schieden, auf den Vordergrund treten zu lassen, dass die
Hauptschwierigkeit in der Unzuverlässigkeit der Handschriften
liegt. Alles Uebrige wäre kaum erheblich, wenn wir nicht mit
dem jämmerlichen Zustande der HSS. zu kämpfen hätten. Die
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HSS. sind nicht nur deshalb schlecht, weil die fränkischen
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Wörter durch unwissende und nachlässige Abschreiber bis zur
Unkenntlichkeit entstellt sind. Die Fehler des Einen finden oft
ein Gegenmittel in den Fehlern eines Andern. Wenn die Varianten
nur zahlreich genug sind - sie sind es leiderin der Lex Salica
nur selten -- dann lässt sich die ursprüngliche Lesart um so leichter
wiederherstellen, je mechanischer ein unwissender Schreiber ver
fahren hat. Aber die Fehler in unsern Codices sind gewöhnlich von
weit bedenklicherer Art. Mancher Schreiber, der veraltete oder
seltene Wörter nicht mehr verstand, und mancher Leser, der
ein schon verschriebenes Wort unrichtig corrigirte, haben den
ursprünglichen Text an manchen Stellen so verwischt, dass eine
Erklärung aller Glossen wol immer zu den p i a v o t a gehören
wird. Im Verlauf wird man nur zu oft Gelegenheit haben
sich zu überzeugen, dass der Zustand der Glossen in den HSS.
wirklich so ist, wie ich ihn hier beschreibe. Es versteht sich von
selbst, dass wir durch das Schwankende der Lesarten unsre
sicherste Stütze verlieren und dass nur ein seltenes Zusammen
treffen günstiger Umstände in einzelnen Fällen einen so grossen
Nachtheil ersetzen kann.
Die zweite Schwierigkeit ist die, dass wir aus der Stelle,
welche eine Glosse mitten im Texte einnimmt, nie folgern kön
nen, worauf sie sich eigentlich bezieht, oder welches Wort im
Satze sie übersetzen oder erläutern soll. Von vornherein ist es
vernunftmässig anzunehmen, dass eine fränkische Glosse ge
wöhnlich dabei gefugt worden, wo ein lateinisches und ein frän
kisches Wort sich begriffiich nicht vollkommen decken. Wenn
wir zu den lateinischen Worten : " si quis bovem furaverit cui
fuerit adprobatum" (III, z. 9) die Glosse ohseno finden, so
müssen wir es für wahrscheinlich halten, dass nicht etwa wegen
der Seltenheit des Wortes, sondern wegen der Zweideutigkeit
des lateinischen b o s, welches sowol männlich als weiblich auf
gefasst werden kann, das fränkische blos männliche o h s e n o
" Ochs" hinzugefügt worden. Weiter sind, wie sich schon erwar-
1 Ein für allemal sei bemerkt, dass in dieser Schrift mit • Fränkisch • ge·
meint ist die Sprache, oder die Mundarten, der salischen Franken, derjenigen welche
in Gallien', d. h. in den Niederlanden südlich und westlich vom Rheine, und in Frank
reich wohnten.
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ten liess, bestimmte Rechtsformeln, wofür das Lateinisehe nicht
genau Entsprechendes bot, im Fränkischen hinzugeschrieben. Eine
solche Formel ist nesticantichio (L). Man darf getrost be
haupten, die Glossen seien in den meisten Fällen gar keine
eigentlichen Glossen, sondern die fränkischen t er mini t e c h
n i c i. Es kommt auch vor, dass sie weder erläuternde Ueber
setzungen, noch Formeln sind, sondern Benennungen bestimmter
Bussen oder Strafen; wie z. B. das häufig wiederkehrende leu
dar d i. Manchmal ist es schwer zu entscheiden, ob in der
Glosse die Bezeichnung einer Busse, einer Strafe steckt, oder
der Name eines Verbrechens. 1\fan begreift, wie verwickelt die
Untersuchung dadurch wird, jedoch würden wir uns mit ein
wenig Geduld in dieser Verwirrung schon zurecht finden, wenn
wir nur den HSS. trauen könnten, wenn wir nur jedesmal ge
wiss wüssten, dass wir es mit einem unverfälschten fränkischen
Worte, nicht mit einem Monstrum zu thun haben.
Dass wir, mit Ausnahme der Eigennamen, nichts von dem
Dialekt der salischen Franken wissen, kann man als das dritte
Hinderniss betrachten; jedoch mit unserer Kenntniss der übrigen
deutschen Sprachen und Literaturen würden wol Wenige deshalb
verzagen.
Viertens tritt uns als hemmender Umstand entgegen, dass
die Glossen in der Regel nur einzelne Wörter, äusserst selten
Sätze darbieten. Deshalb wird es rathsam sein mit denjenigen
Glossen anzufangen, welehe Formeln enthalten, in dem hier aus
dem Zusammenhange Hilfe zu erwarten ist. An der Spitze
sollen zwei Formeln stehn aus XXVI. Die lateinischen Worte,
wozu sie gehören, sind: "si quis alienum letum extra consilium
domini sui ante regem per dinario [ingenuum J dimiserit ", und:
" si quis s er v um alienum per dinario ante regem [ingenuum J
dimiserit ". Für die erste Formel bieten die HSS. :
malthoitus meo letu 1.
malteohiatus meo lexim 2.
malthochiado freoledo 6.
maltholitho frioblito 7.
malchoitto frioblito 8.
maltho hithofrio blito 9.
maltho theato meolito 10.
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Die zweite Formel lautet :
maltho latu metho 1.
maltho hait homitto 2.
malthochiado moetheo 6.
maltho:fiato meoto 7.
malthofiatho meotho 8.
maltho fratho meotho 9.
maltho theatha meotheos 10.
Sehen wir, ehe wir zur Erklärung schreiten, was wir in Bezug
auf den Zustand der Codices durch blosse Vergleichung lernen
können. Es leuchtet ein, dass die erste und zweite Formel
vollkommen identisch sein sollten mit Ausnahme des letzten
Wortes ; der einzige Unterschied also darf nur dieser sein, dass
die erste ein Wort für " letus ", die zweite eines für " sklave"
bietet. Nun sieht man deutlich, dass in der That das let=zte Wort
der ersten Formel l e tu ist, das letzte der zweiten t h e o Goth.
t h i u s " sklave ". Wie weit aber sind die meisten Hss. im
Uebrigen von Consequenz mit sich selbst entfernt! Man be
trachte einmal, wie in 7, 8 und 9 die erste Formel lautet, und
wie an derselben Stelle die zweite. Und der Unterschied ist nicht
blos der Art, dass die Wörter einfach verlesen oder verschrieben
sind, sondern es ist absichtlich, wie Jeder sehen kann, von
Halbwissenden oder Naseweisen gepfuscht worden, wenigstens
in einer der beiden Formeln. Die Gründe, welche den Aberwitz
zu vermeintlichen Correctionen veranlasste, wollen wir später
aufsuchen. Hier sei es genug den Leser darauf zu weisen,
dass sämmtliche Hss. unzuverlässig sind, dass sie gegen sich
selbst als unwiderlegliche Zeugen auftreten. Weiche unter den
Hss. im vorliegenden Falle die besseren oder die schlechteren
sind, ist so ungefähr wol zu sehen, jedoch vorläufig von wenig
Interesse, denn wir haben uns eben, unabhängig von den Hss.
nach einem Criterium zur Prüfung der wahren Lesart umzusehen.
Ue berhaupt ist nichts unkritischer als Codices in " gute" und
"schleehte" zu vertheilen. Von einem Dutzend ,,schlechter" Hss;
kann jede ihre eigenthümlichen Fehler haben, und es kommt eben
darauf an die Eigenthümlichkeit, den Charakter dieser Fehler zu
bestimmen, damit man die Veranlassung zu den Fehlern erkenne
und sie dadurch beseitigen könne. Es giebt Codices, worin fast
kein einziges Wort richtig geschrieben ist und die doch unter die
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vorzüglichsten gerechnet werden müssen in Vergleichung mit
anderen, welche keine oder wenig grobe Fehler enthalten und
nichtsdestoweniger grundschlecht sind. Diese letzteren sind
eben modernisirt, bisweilen auf geschickte, bisweilen auf un
geschickte Weise, aber immerhin sind sie adulterirt, während
die " siechten " Hss. der ersten Art zwar sehr fehlerhaft, aber
nicht verfälscht sind, und die man u s a u c t o ri s dem Kriti
ker am Ende doch nicht verhüllen können.
Um auf unsre Formel zurückzukommen, müssen wir be
merken, dass der elende Zustand, in dem wir sie in den ge
druckten Ausgaben finden, nicht ganz den Hss. zu Schulden
komme. Denn die Trennung der Worte, oder der Lautcom
plexe, welche die Herausgeber für Worte ansahen, ist das
Werk der Gelehrten. Von jetzt an werde ich die Glossen nicht
mehr getrennt aufi'ühren, denn das verwirrt unnöthigerweise
und hat, leider, zu den possirliebsten Erklärungen Ve ranlas
sung gegeben. Die Wiederherstellung der Glosse ist, mit Aus
nahme des ersten Wortes, worüber noch ein Zweifel möglich
wäre, leicht. Die wahre Lesart hat 10 in der ersten Formel :
malthö the atomeo -lito
D. h. " ( si) dixerit: te Iibero, lite. "
Die zweite Formel ist :
malthö the atomeo theo ( s)
D. h. (si) dixerit: te Iibero, serve. "
Die drei letzten Worte sind rein altsächsisch, genauer gesagt,
auch rein As. ; sie hätten eben so gut im Heliand eine Stelle
finden können als in der Lex Salica. Jeder der den altsäch
sischen Sprachgebrauch kennt, versteht diese fränkischen Worte
sogleich. - Was die Form t h e o s betrifft, die in der hier sich
als die consequenteste und tauglichste zeigenden Hs. 10 vor
=
kommt, so könnte dies ein Nominativ Goth. t h i u s sein,
statt des Vocativs. Da aber in derselben Hs. früher lito, und
nicht 1i tu s geschrieben steht, so ist es bei Weitern wahrschein
licher, dass es ein reiner Schreibfehler ist. Es ist vorläufig
schon deshalb das Letzte anzunehmen, weil uns a priori die
Erhaltung des s im Nominativ der fränkischen Wörter als un
wahrscheinlich vorkommen muss. Es wird erlaubt sein hier
im Voraus schon zu sagen, dass 10 in der Regel jüngere For-