Table Of ContentWolfgang Luthardt . Alfons Sollner (Hrsg.)
Verfassungsstaat, Souveranitat, Pluralismus
Wolfgang Luthardt . Alfons Sollner (Hrsg.)
Verfassungsstaat,
Souveranitat, PluralisDlus
Otto Kirchheimer zum Gediichtnis
Westdeutscher Verlag
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Verfassungsstaat, Souverinitit, PluraIismus:
Otto Kirchheimer zum Gedachtnis/Wolfgang
Luthardt; Alfons Sollner (Hrsg.). - Opladen:
Westdt. VerI.. 1989
ISBN-13: 978-3-531-12025-6 e-ISBN-13: 978-3-322-87760-4
DOl: 10.1007/978-3-322-87760-4
NE: Luthardt. Wolfgang [Hrsg.);
Kirchheimer. Otto: Festschrift
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Umschlaggestaltung: Horst Dieter BUrkle. Darmstadt
ISBN-13: 978-3-531-12025-6
Vorwort
1m November 1985 jahrte sich der 80. Geburtstag und zugleich der 20. Todestag
des deutsch-amerikanischen Juristen und Politikwissenschaftlers Otto Kirchhei
mer. Aus diesem AnlaB wurde am Fachbcreich Politische Wissenschaft der Freien
Universitat Berlin ein Symposion veranstaltet. Die dabei von Politikwissenschaft
lern, Rechtswissenschaftlern und Historikern eingebrachten Themen und die leb
haften Diskussionen, die durch sie ausgel~st wurden, zeigten, wie breit das Inter
esse an den Schriften Otto Kirchheimers nach wie vor ist. Fur einzelne Bereiche
der Politikwissenschaft hat er fast schon ,,klassisch" zu nennende Analysen gel ie
fert. Dies ist fUr die Herausgeber Grund genug, die auf dem Symposion gehaltenen
Referate - mit ModifIkationen - zu publizieren.
Unser Dank gilt zunachst den Referenten, die ihre Beitrage zum Abdruck freigege
ben haben. Fur das Gelingen der Diskussionen danken wir Jiirgen Fijalkowski,
Klaus Megerle, Ralf RytIewski und Uwe Wesel. Die Teilnahme von Hans-Her
mann Hartwich, Wilhelm Hennis, Gotthard Jasper, Gerhard Lehmbruch und Wolf
Dieter Narr gab dem Symposion eine zusatzliche Note. Finanzielle Unterstutzung
kam von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Fritz Thyssen Stifung, der
Friedrich-Ebert-Stiftung und dem AuBcnamt der Freien Universitat Berlin. Organi
satorische Hilfe wurde vom Fachbereich Politische Wissenschaft zur Verfiigung
gestellt.
Der Stadt Heilbronn, seiner Geburtsstadt, dankcn wir fUr einen groBzugigen Druck
kostenzuschuB.
Berlin, Januar 1988 Wolfgang Luthardt
Alfons SOllner
Inhalt
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 115
I. Otto Kirchheimer - Leben und Werk
John H.llerz ............ . 11
IT. Chancen und Niedergang der Weimarer Verfassung
Historisch-gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Krise von
Weimar - Zu Verfassungsauftrag und -wirklichkeit in der
ersten deutschen Republik
Michael Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 27
Verfassung, Wohlfahrtsstaat und Demokratie
Wolfgang Luthardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Weimarer Demokratie und gesellschaftliche MachtverhaItnisse
- Zur Methode der Verfassungsanalysen Otto Kirchheimers
Joachim Perels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
ITI. Souveranitat und Pluralismus - Vom Nationalsozialismus zur
Demokratie
Der Nationalsozialismus und die Auflosung des normativen
S taatsgefiiges
Hans Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Otto Kirchheimers Analyse des nationalsozialistischen
Herrschaftssystems 1935 - 1941
Richard Saage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Souveranimtszerfall oder Pluralismus? - Italienische Fragen
an die Weimarer Verfassungsdebatte
Angelo Bolaffi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Emigrantcnblicke - Westdeutschland im Urtcil von Franz Neumann
und Otto Kirchheimer
Alfons Sollner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 101
8 Inhalt
IV. Recht nnd Staatsschutz in der Demokratie
Recht als strategische Ressource
RUdiger Voigt ........ . 115
Politische Ju stiz im demokratischen Verfassungsstaat
Ulrich K. Preufl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Von der Biirgerfreiheit zur Sicherheitsversorgung? - Zur
Entwicklung, Funktion und richtcrlichen Kontrolle des
Verfassungsschutzes in der Bundcsrcpublik Deutschland
Hans-Peter Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . 153
V. Parteiensystem nnd parlamentarische Demokratie
"Allerweltsparteicn" und "Verfall der Opposition" - Ein Beitrag
zu Kirchheimers Analysen westcuropaischer Parteiensysteme
Manfred G. Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Otto Kirchheimer als Politikwissenschaftler - am Beispiel seiner
Beitrage zur Parteienentwicklung
Kurt Sontheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Otto Kirchheimcr als Parteientheoretiker
Richard Stoss ..................... . 189
Politische Pcrspcktiven der Griincn in der Bundesrepublik
Deutschland
Joachim Raschke .......... . ...... 199
VI. Perspektiven der Politikwissenschaft
Ossip K. Flechtheim . . . . . . . . . . . . . . . . .. 217
VII. Bibliographie der Schriften Otto Kirchheimers
Wolfgang Luthardt ......................... 231
I. Otto Kirchheimer - Leben und Werk
-Otto Kirchheimer, Leben und Werk
JohnH. Herz
DaB eine Gruppe von Politikwissenschaftlem, Historikem, Soziologen und Philo
sophen zusammenkommt, urn sich speziell mit dem Werk Otto Kirchheimers zu
beschaftigen, bezeugt, daB die Bedeutung Kirchheimers als eines politischen Den
kers immer mehr erkannt wird.
In meinem EinfUhrungsvortrag kann ich nicht mehr tun, als sein Leben und das
Werden seiner Gedanken in groBen Linien nachzuzeichnen. Zunachst die wichtig
sten Lebensdaten. Die zeitIiehe Wahl fUr dieses Treffen war nieht zufaIlig. Vorge
stem, am 11. November 1985, ware er achtzig Jahre geworden; nachste Woche, am
22., gedenken wir seines zwanzigsten Todestages; er starb, zu fruh, mit nur sechzig
Jahren. Wir wissen relativ wenig von seiner Jugend. Er wurde in Heilbronn gebo
ren, besuchte dort die Schule, aber als seine Eltem starben, lieBen ihn seine be
trachtIich alteren Geschwister in einer Privatschule in Ettenheim sein Gymnasial
studium weiterfiihren und brenden. Ein noch lebender Freund seiner Jugendjahre,
Eugen Anschel, fiihrt auf diese friihe Trennung vom Eltemheim ein gewisses Si
cherheitsbediirfnis zurUck, das ihn sein ganzes Leben lang begleitete. So interes
sierte er sieh zum Beispiel fiir Borsenanlagen und legte seinen Erbteil in Aktien an,
die er prompt verlor. Sein friihes Bekenntnis zum Sozialismus sowie seine Kon
zentration auf das Geistige geht aus zwei kleinen Geschiehten hervor, die Anschel
mir brieflieh mitteilte und die ieh Ihnen nieht vorenthalten moehte.
Otto und er waren Mitglieder eines deutseh-jiidisehen, nieht-zionistisehen
Wanderbundes und hatten sieh zu einem Treffen diesesjugendbewegten Bundes in
einem kleinen art in der Eifel getroffen, wo wegen eines Feiertages alle Gesehafte
gesehlossen waren. Ich zitiere aus Ansehels Berieht:
"Wir waren alle mude, kalt, durchniiBt und hungrig. Unsere Tornister waren ziemlich leer. In
einem Saal des Schulhauses, wo wir untergebracht waren, wurde beraten, wie man allen 50
bis 60 Kameraden Essen beschaffen konne. Otto hatte einen groBartigen Gedanken, der of
fenbar von seiner sozialistischen Oberzeugung ausging: AIle sollten vorhandene Lebensrnit
tel auf einem Haufen im Saale zusarnmentragen. Er, Otto, teilte danach mit einem Stabe die
FreBmaterialien in genau soviele Teile wie Gruppcn vorhanden waren. Das Ergebnis dieser
Planwirtschaft war, daB eine Gruppe Brot hatte, die andere Kiise, die dritte Gemusekonser
yen, die vierte Butter usw. Otto kratzte sich den Kopf: Mit schematischem 'Sozialismus'
ging es anscheinend nicht, und argerlich warf er seinen Stab in die Ecke. Die Essensfrage
wurde dann schlieBlich aufgrund marktwirtschaftlicher Vereinbarungen und Austausch zwi
schen den einzelnen Gruppen gelost."
12 lohnH.Herz
Seine Konzentration auf das Geistige offenbarte sieh bei einem Besuch bei An
schels, als er seinem Freunde die platonische Ideenlehre beizubringen suchte. Ich
zitiere wieder:
,,Meine Mutter hatte einen Teller mit Gebiick auf den Tisch gestellt. Otto langte zu, wiihrend
sein Geist sich in hliheren Regionen bewegte, und als meine Mutter wiederkam, war der Tel
ler leer .... Meine Schwester und eine Kusine kamen auf den Gedanken, ihm einen Streich zu
spielen. Sie legten Pralinen auf den Teller, die statt mit Liqueur mit Essig gefiillt waren. Je
doch, der Gedanke an Plato iiberkam den Essig. Ohne mit der Miene zu zucken, verzehrte
Otto die Essigpralinen. Die Idealvorstellungen waren starker als die sauren irdischen Ver
hiiltnisse. "
So blieb es auch spliter. Ich erinnere mich einer Erzlihlung seiner Studenten an der
Columbia-Universitat, wo er, beleibt und massiv wie er war, mitsamt seinem Ka
theder umfiel. Noch im Fallen sprach er weiter, und die Vorlesung wurde nieht un
terbrochen. Wieder einmal hatte der Geist fiber die armseligen Bedingungen des
taglichen Lebens gesiegt.
Otto studierte in Mfinster, KOln, Berlin und Bonn Rechts- und Staatswissen
schaft, da es ja damals noch keine Politikwissenschaft gab. Nach Miinster hatte ihn
Karl Vorlander gezogen, ein neukantianischer Sozialist, der als erster ein Buch
iiber "neuzeitliehe Staats- und Gesellschaftstheorien" geschrieben hatte (Von Ma
chiavelli his Lenin)!; hier also lemte er das kennen, was wir heute als Geschiehte
der politischen Theorien bezeiehnen. Nach KOln zog ihn Max Scheler, nach Berlin
Rudolf Smend, aber die eigentIiche Wendung zur Staatstheorie und Politologie
voIlzog sieh in Bonn, mit Carl Schmitt. Er wurde ein Lieblingsschiiler von Schmitt
(als der noch nieht zum Nazismus umgeschwenkt war). Otto erkannte in Schmitt
den scharfsinnigen, einfallsreiehen, den Wert des Abstrahierens bezweifelnden und
immer aufs Konkrete abstellenden Denker. Solches Denken charakterisierte Kirch
heimer von nun an. Er hat nie theoretische Lehrgebliude errichtet, dafiir aber bril
liante Ideen aus den politischen Gegebenheiten entwickelt. Dafiir werde ich spliter
noch einige Beispiele anfiihren. Personlich enttauschte ihn Schmitts Opportunis
mus auf tiefste. Das zeigte sieh, als er in der Pariser Emigration unter einem Pseu
donym ein Pamphlet fiber "Staatsgefiige und das Recht des Dritten Reiches" ver
faBte, das laut Titelblatt unter den Auspizien von "Staatsrat" Carl Schmitt erschie
nen sein sollte und als Untergrundliteratur nach Deutschland geschmuggelt wurde.
Wenn sich heutige Schmittianer dariiber beschweren, daB Schmitt damals dadurch
Schwierigkeiten entstanden seien, so kann man dazu, auf Amerikanisch, nur sagen:
So what? Bei seinem Studium aber war Schmitt wohl eine Art Vaterersatz. Natiir
lich akzeptierte er nicht Schmitts politische Einstellungen. War Schmitts Freund
Feind-Bezogenheit eine nationalistische, so war und blieb Kirchheimers Bezugs
punkt der Klassenkampf. Aber, analog zurn Verhliltnis Heidegger-Marcuse, man
respektierte sich gegenseitig: Du bist rechts, ieh bin links, aber wir respektieren
uns als Revolutionare.2
Kirchheimer promovierte bei Schmitt mit einer Dissertation fiber "Die Staats
Iehre des Sozialismus und Boischewismus". Er wurde dann Referendar, absolvierte
das Assessorexamen und war im Begriff, sieh als Anwalt niederzulassen, als der
Olto Kirchheimer, Leben und Werk 13
30. Januar 1933 allen PUinen ein jahes Ende bereitete. Er strebte keine Karriere als
Universiti1tslehrer an, sondern wollte in die Politik gehen. Er war Mitglied der
SPD, verlieB sie auch nicht, als viele Links-SPDler, darunter sein Schwiegervater,
der Anwalt und Reiehstagsabgeordnete Kurt Rosenfeld, die SAP mitbegriindeten.
Als Realist hielt er wenig von Splittergruppen. Eine Plut von staats- und rechts
theoretischen wie auch politischen Schriften ergoB sich in diesen Jahren in die Of
fentlichkeit, darunter die beriihmte Schrift" Weimar - und was dann?". Unter den
damaligen Einstellungen sozialistischer Theoretiker war seine wohl extremer als
die von Freunden wie Franz Neumann und Ernst Fraenkel. Einen Teil seiner Refe
rendarzeit verbrachte er in Erfurt, wo der linke PIiigel der SPD stark war. Eugen
Anschel rat einem kiinftigen Biographen, die damalige Erfurter SPD-Zeitung auf
Beitrage von Kirchheimer durchzusehen. Personlich gab es in den Jahren vor Hit
ler Schwierigkeiten; seine Ehe mit Hilde Rosenfeld zerfiel (er lieB sieh in der Emi
gration von ihr scheiden, eine Tocher aus dieser Ehe ging mit ibm nach Amerika
und wurde dort von ihm und seiner zweiten Frau, zusammen mit dem Sohn aus
zweiter Ehe, aufgezogen).
Die Emigration fiihrte ihn zunachst nach Paris, wo er von 1933 bis zu seiner
Auswanderung in die Vereinigten Staaten 1937 ein stets von finanziellen Sorgen
beschwertes Leben fiihrte; er hatte Unterschlupf gefunden bei dem dorthin emi
grierten (vormals Frankfurter) Institut fiir Sozialforschung. Seine Anstellung dort
setzte sieh auch in New York fort, nachdem das Institut von Paris nach New York
umgesiedelt war. Dort, auf der dritten Etage des Institutshauses auf dem Campus
der Columbia-Universiti1t, mit dem das Institut in Verbindung getreten war, lernte
ieh ihn - sowie Neumann und Marcuse - kennen. Freunde worden wir aber erst,
als wir beide wahrend des Krieges in das Washingtoner Office of Strategic Ser
vices eingetreten waren; dariiber spater noch mehr.
Der Teil des OSS, in dem wir arbeiteten, der sogenannte Research and Analy
sis Branch, wurde 1945 dem State Department als Intelligence Research Office an
gegliedert (also nieht, wie die iibrigen Teile des OSS, dem CIA - niehts argert ehe
malige OSSler wie mieh mehr, denn als Vor!aufer des CIA eingestuft zu werden;
Marcuse zum Beispiel wurde spater sowohl von der Prawda als auch der Springer
Presse a1s ehemaliger CIA-Agent angeprangert). Kirchheimer blieb !anger im State
Department a1s wir anderen, obwohl er wfihrend der McCarthy-Periode, als man
unter jedem Bette einen "Commy" witterte, politische Schwierigkeiten bekam -
seine erste Frau, die Kommunistin war, war namlich in die DDR zuriickgegangen
und spielte dort eine betrfichtliche Rolle in der SED und Justiz; es half ihm nichts,
daB er mit ihr nicht mehr das geringste zu tun hatte, ja nach Griindung der SED zu
einem ausgesprochenen Gegner des dortigen Regimes geworden war - in der DDR
war er Anathema, und sein Name tauchte dort nur einmal, an!aBlich der offiziellen
Todesanzeige von "Hilde Rosenfeld-Kirchheimer-Neumann" auf (ihr zweiter
Mann war nieht identisch mit Franz Neumann). Wahrend der Zeit im Staatsdienst
war er am Schreiben, zumindest dem offentlichen, dadurch gehindert, daB alle Pu
blikationen der Genehmigung bedurften. Umso mehr sammelte er Notizen und Er
kenntnisse an, die sich dann, wahrend seiner akademischen Zeit, d.h. von 1954 bis