Table Of ContentStudien zur Schul-
und Bildungsforschung
Band 42
Herausgegeben vom
Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB)
der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Deutschland
Jürgen Budde( Hrsg.)
Unscharfe Einsätze: (Re-)
Produktion von
Heterogenität im
schulischen Feld
Herausgeber
Prof. Dr. Jürgen Budde
Universität Flensburg, Deutschland
ISBN 978-3-531-18415-9 ISBN 978-3-531-19039-6 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-531-19039-6
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Inhaltsverzeichnis
Jürgen Budde
Einleitung .................................... .......................................................................... 7
I. Theoretische Perspektiven
Isabell Diehm, Melanie Kuhn & Claudia Machold
Ethnomethodologie und Ungleichheit? Methodologische
Herausforderungen einer ethnographischen Differenzforschung ........................ 29
Mechtild Gomolla
Barrieren auflösen und Teilhabe gestalten: Ein normativer
Reflexionsrahmen für eine heterogenitätsbewusste Organisations-
entwicklung in (vor)schulischen Bildungseinrichtungen ..................................... 53
Kerstin Rabenstein & Julia Steinwand
Heterogenisierung: Subjektkonstruktionen im Heterogenitätsdiskurs
in Deutschland ...................................................................................................... 81
Beate Wischer
Konstruktionsbedingungen von Heterogenität im Kontext
organisierter Lernprozesse.
Eine schul- und organisationstheoretische Problemskizze .................................. 99
Norbert Wenning
Die Rede von der Heterogenität – Mode oder Symptom?. ................................ 127
II. Empirische Perspektiven
Georg Breidenstein, Christin Menzel & Sandra Rademacher
Legitime und illegitime Differenzen im individualisierten
Unterricht. Beobachtungen aus einer Montessori-Schule. ................................. 153
Jürgen Budde
Didaktische Regime - Zettelwirtschaft zwischen Differenzstrukturen,
Homogenisierung und Individualisierung .......................................................... 169
Torsten Eckermann & Friederike Heinzel
Etablierte und Außenseiter - Wie Kinder beim kooperativen Lernen
mit Heterogenität umgehen. ............................................................................... 187
Uwe Gellert
Heterogen oder hierarchisch?
Zur Konstruktion von Leistung im Unterricht ................................................... 211
Kerstin Jergus, Jens Oliver Krüger & Sabrina Schenk
Heterogenität als Leitbild – Heterogenität in Leitbildern .................................. 229
Marita Kampshoff
Doing difference im Unterricht als Unterricht ................................................... 249
Tanja Sturm
Orientierungsrahmen unterrichtlicher Praktiken: lerntheoretische
Vorstellungen und schulischer Kontext ............................................................. 275
III. Exkurs: Internationale Perspektive
Gjert Langfeldt
The lost yield of education ................................................................................. 297
Autorinnen und Autoren. .................................................................................... 313
Einleitung: Unscharfe Einsätze – (Re-)Produktion von
Heterogenität im schulischen Feld
Jürgen Budde
Heterogenität im schulischen Feld
Ein zentrales – und seit der Herausbildung einer modernen Konzeption von
Schule wiederholt diskutiertes – schulpädagogisches Spannungsfeld ist im Ver-
hältnis zwischen Differenz und Gleichheit geronnen. Welchen Stellenwert Diffe-
renz und Gleichheit im Schulsystem haben ist bereits seit der klassischen Formu-
lierung von Ernst Christian Trapp, „den Unterricht auf die Mittelköpfe zu kalku-
lieren“ als eine der zentralen Fragen und Herausforderungen der Schulpädagogik
markiert. Diese Herausforderung bezieht sich nicht nur auf die – im Trapp‘schen
Zitat thematisierte – Dimension des Unterrichtens, sondern beispielsweise auch
auf die schulorganisatorische Ebene. So ist ein Gleichheitsanspruch kennzeich-
nend für die Etablierung eines modernen Schulsystems im Laufe des 19. Jahr-
hunderts. Die Einführung der allgemeinen, für alle gleichermaßen geltenden
Schulpflicht lässt sich als ein wesentliches Merkmal einer modernen Schule
charakterisieren – wenngleich darauf hinzuweisen ist, dass die Bildungsbeteili-
gung zu jener Zeit nach familiärer Herkunft und Geschlecht wiederum erheblich
differenziert war. Auch in der aktuellen schulpädagogischen Diskussion ist die
Frage nach dem Verhältnis von Gleichheit und Differenz in vielfacher Weise
aufgerufen.
Besonders pointiert wird die Frage aktuell unter dem Stichwort Heterogeni-
tät diskutiert. Der Begriff Heterogenität wird zunehmend als zentrales Thema für
Schule und Unterricht benannt und in diesem Kontext sowohl auf soziale Kate-
gorien als auch auf unterschiedliche Leistungsstände von Schülerinnen bezogen
(Budde 2012a). In Forschung, theoretischem Diskurs und Praxis wird Heteroge-
nität auf unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Konzeptionierungen
verwendet. Dabei lassen sich höchst unterschiedliche Einsätze des Begriffes
feststellen, die eher zu Unschärfen führen (Budde 2012b). So ist beispielsweise
zu fragen, was theoretisch unter Heterogenität gefasst wird oder in welchem
Verhältnis Heterogenität und Homogenität im schulischen Feld zueinander ste-
hen? Weiter wäre beispielsweise zu klären, inwieweit Heterogenität nicht nur
J. Budde (Hrsg.), Unscharfe Einsätze: (Re-)Produktion von Heterogenität im schulischen Feld,
Studien zur Schul- und Bildungsforschung, DOI 10.1007/978-3-531-19039-6_1,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
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bearbeitet, sondern im Feld selbst hervorgebracht wird? Welche empirischen
Befunde liegen vor, welche methodologischen Herausforderungen sind zu be-
denken?
Noch wenig im Blick der Schul- und Unterrichtsforschung ist bislang die
Überlegung, dass Heterogenität/Differenz und Homogenität/Gleichheit nicht
isoliert voneinander zu betrachten, sondern relationale und aufeinander verwei-
sende Konzepte sind (Wenning 2004). Beide entstehen in Prozessen des Wahr-
nehmens und Vergleichens, denen implizite oder explizite Maßstäbe oder Bezü-
ge zu Grunde gelegt sind. Während mit Heterogenität Differenzen zwischen zwei
Eigenschaften, Personen oder Artefakten im Hinblick auf ein Kriterium be-
schrieben werden, beschreibt Homogenität die Gleichheit von Aspekten im Ver-
gleich. Im Prozess des Vergleichens entstehen Gleichheit und Differenz, die
dabei jeweils mit spezifischen Bedeutungen und Wertungen aufgeladen werden
(Lang et al. 2010).
Die im schulischen Feld verhandelten Konzepte von Differenz bzw. Hete-
rogenität und Gleichheit bzw. Homogenität können höchst widersprüchlich ge-
handhabt werden. Dabei ist keineswegs auszumachen, ob die Schule nun eher zu
Heterogenisierungen oder aber zu Homogenisierungen tendiert. Ein Blick auf
verschiedene Ebene verdeutlicht, dass die Tendenzen unklar, widersprüchlich,
aber auch sich gegenseitig bedingend sein können. So dominieren auf der Ebene
institutioneller Regelungen zwar historisch Verfahren, die auf leistungshomoge-
ne Lerngruppen durch ein mehrgliedriges (sprich heteorgenes) Schulsystem
abzielen, andererseits nehmen in den letzten Jahren die Initiativen für die Schaf-
fung heterogener Lerngruppen zu (vgl. Wischer 2007). Initiativen wie die Ein-
führung von altersgemischten oder Integrationsklassen sollen die so genannte
‚Vielfalt der SchülerInnen‘ begünstigen (vgl. Graumann 2002), nicht selten in
Verbindung mit der Reduktion (Homogenisieurng) von Schulformen. Homoge-
nisierungen werden ebenfalls sichtbar in der Formulierung allgemeingültiger
(mittels Vergleichsarbeiten überprüfbarer) Kompetenzen (vgl. Fürstenau 2007).
Auch in der Anforderungsstruktur an LehrerInnenhandeln wird das komple-
xe Gefüge von Differenz und Gleichheit deutlich. So sind Lehrpersonen zum
einen verpflichtet, sich an Gleichheitsvorstellungen in Absehung vom Einzelfall
zu orientieren, besonders im Falle der Leistungsbewertung ist dieses Prinzip
zentrale Basis für die Legitimation von Schule (vgl. Schröder 1995). Zum ande-
ren sollen sie die Individualität der SchülerInnen nicht nur zur Kenntnis nehmen,
sondern zum Ausgangspunkt pädagogischer Prozesse machen, wie dies bei-
spielsweise in den KMK-Standards zur Lehrerbildung gefordert wird. So ist an
dieser Stelle definiert, dass
Unscharfe Einätze – (Re-)Produktion von Heterogenität im schulischen Feld 9(cid:1)
„Lehrerinnen und Lehrer […] die sozialen und kulturellen Lebensbedingungen von Schülerin-
nen und Schülern [kennen] und […] im Rahmen der Schule Einfluss auf deren individuelle
Entwicklung [nehmen]“ (Kultusministerkonferenz 2004).
Auf der Ebene des Unterrichts ist das Verhältnis von Gleichheit und Differenz
ebenfalls spannungsreich und keineswegs geklärt. So dominierten lange Homo-
genisierungen, etwa in Form des lehrerzentrierten Unterrichtsgespräch oder in
vereinheitlichenden Lehr-Lernarrangements (vgl. z.B. Sturm 2009), die zuneh-
mend durch pädagogisch-didaktische Alternativen ersetzt (vgl. Baumert et al.
1997; Häcker/Rihm 2005) und mit der Hoffnung verbunden werden, mit Hetero-
genität anders – gelingend – umzugehen. Im Zuge der Forderung nach Individua-
lisierung, selbsttätigem Lernen und Binnendifferenzierung im Kontext von Leis-
tungsheterogenität sind unterschiedlichste Varianten geöffneten Unterrichts
überaus populär (vgl. Bohl/Kucharz 2010). In der Grundschule ist beispielsweise
nicht mehr Klassenunterricht sondern Einzelarbeit die zeitlich dominierende
Arbeitsform (vgl. Institut für Qualitätsentwicklung 2008). Wischer (2007) aller-
dings warnt, dass nicht nur die Effekte geöffneten Unterrichts bislang empirisch
unterbelichtet sind, sondern auch die Annahme, dass dieser positiv für Heteroge-
nität sei (was immer positiv jeweils überhaupt heißen mag) kaum überprüft ist
(vgl. Budde 2011). Darüber hinaus ist noch eine offene Frage, inwieweit diese
Individualisierung durch die Vertiefung von Differenzen zwischen den Schüle-
rInnen nicht zu einer Verstärkung sozialer Ungleichheit beitragen kann.
Gerade Leistungsdifferenzen stellen für die Schule eine besondere Diffe-
renzkategorie dar. Die zentrale Stellung von Leistung ist dabei in doppelter Hin-
sicht augenfällig. Denn erstens gelten Leistungsdifferenzen – im Gegensatz zu
vielen anderen Differenzen – als natürlich und legitim zugleich. Während eine
Ungleichbewertung aufgrund von Milieu, Geschlecht oder Ethnizität zumeist
illegitim erscheint, sind Leistungsdifferenzen nicht nur akzeptiert. Im Gegenteil,
die Hervorbringung von Leistungsunterschieden und deren differentielle Bewer-
tung ist geradezu eine wichtige Funktion von Schule, unabhängig davon, ob sie
sich im Einzelfalle der individuellen Förderung oder der größtmöglichen Gleich-
heit verschrieben hat (vgl. Sacher 2009; Sacher/Grunder 2011; Schrader/Helmke
2001). Gerade an diesem Punkt lassen sich Übereinstimmungen zwischen re-
formpädagogischen Orientierungen mit traditionelleren Unterrichtskonzepten
feststellen. Während in traditionelleren Konzepten Leistungsunterschiede als
zentrales Klassifikationsmerkmal für die Zuordnung zu bestimmten Leistungs-
gruppen herangezogen werden, und so soziale Differenz durch Leistung manifes-
tiert wird, richten reformpädagogische Ansätze zwar ihre Kritik scharf auf eben
jene Funktionsweise, tragen durch eine Akzentuierung individueller Leistungs-
potentiale aber ebenso dazu bei, Leistung als zentrales Differenzkriterium zu
etablieren. Eine Schule, die sich – in reformpädagogischer Tradition – den indi-
10 Jürgen Budde
viduellen Leistungsvermögen und den individuellen Leistungspotentialen der
Kinder verschreibt, steigert durch diesen Ansatz gleichsam notwendigerweise die
Unterscheide zwischen den SchülerInnen.
Zweitens ist Leistung die Währung, um die in der Schule ‚gespielt‘ wird, sie
ist der Wert, den Schule zu messen zumindest vorgibt, selbst wenn immer wieder
begründet in Zweifel gezogen wird, inwieweit tatsächlich Leistung gemessen
wird oder nicht die Bewertungspraxis ein Eigenleben entfaltet (vgl. Breidenstein
2006; Zaborowski et al. 2011). Legitimiert wird die Messung und Bewertung
von Leistung auf der Grundlage des meritokratischen Prinzips, welches als nor-
mativer Ausgangspunkt der Frage von Bildungsungleichheit zugrunde liegt.
Denn angenommen wird mit dem meritokratischen Prinzip, das Alle, unabhängig
von sozialen Klassifikationskategorien für gleiche Leistung in gleichem Maße
bewertet werden sollen. Sowohl für Ethnizität als auch für Geschlecht und noch
stärker für Milieuzugehörigkeit verweisen internationale wie nationale Ver-
gleichsstudien aber darauf, dass das meriokratische Prinzip durch eben diese
sozialen Kategorien unterlaufen und durchkreuzt wird und sie bedeutsame Effek-
te sowohl in der Vorerwartung als auch in der Beurteilungspraxis zeigen (vgl.
Schrader/Helmke 2001). Nachteile stellen sich für Kinder aus sozial schlecht
gestellten Milieus nicht nur aufgrund ihrer durchschnittlich geringeren Leistung,
sondern auch bei gleicher Leistung (vgl. Ludwig 1995).
Als weiterer Einwand lässt sich formulieren, dass die Konzepte von Leis-
tung in der Schule nicht gleichsam neutral sind, sondern schon immer durch
gesellschaftliche Konstruktionen und Vorstellungen von wertiger und unwertiger
Leistung zustande kommen (vgl. Gellert/Hümmer 2008). Leistung selbst also ist
kein ‚neutrales’ Konstrukt, sondern eben ein relationales, weil bestimmte Set-
zungen wie Orientierung auf kognitive Leistung, Orientierung an bürgerlichen
Wissenskomplexen und Verhaltensnormen, zugrunde liegen. Die spezifische
‚Doppelakzentuierung‘ von Leistung sowohl als Differenzkategorie als auch als
Beurteilungsmaßstab unterstreicht die Ambivalenz, die dieser Kategorie zugrun-
de liegt.
Felder des Heterogenitätsdiskurses
Diese kurzen Schlaglichter auf das Thema Gleichheit und Differenz skizzieren
erstens die Komplexität des Feldes und machen gleichzeitig deutlich, dass beide
Konstrukte in einem unauflöslichen und dauerhaft aufeinander verweisenden
Spannungsverhältnis zu einander stehen. Innerhalb des Diskurses lassen sich
unterschiedliche Felder identifizieren, in denen spezifische Aspekte von Diffe-
renz thematisiert, verhandelt, verfestigt und hierarchisiert werden. Systematisiert