Table Of ContentPHANOMENOLOGIE DES NATURRECHTS
PROF. DR. W. LUIJPEN
PHANOMENOLOGIE DES
NATURRECHTS
AUS DEM NIEDERLANDISCHEN UBERTRAGEN VON
REINHOLD KUHN
MARTINUS NIJHOFF/HAAG/1973
@ I973 by Martinus Nijhott, The Hague, Netherlands
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ISBN-13: 978-90-247-1536-7 e-ISBN-13: 978-94-010-2442-6
DOl: 10.1007/978-94-010-2442-6
Das N aturrecht ist tot,
es lebe das N aturrecht.
ERICH FECHNER
ABK'ORZUNGEN
MEAS: K. Marx-Fr. Engels, Ausgewiihlte Schriften in zwei Biinden,
Berlin 1952.
5Th: Sancti Thomae Aquinatis, Summa Theologica.
SZ: M. Heidegger, Sein und Zeit, Tiibingen 19496•
EN: J-P. Sartre, L'Existentialisme est un Humanisme, Paris 1954.
PP: M. Merleau-Ponty, Phenomenologie de la Perception, Paris
194514.
SNS: M. Merleau-Ponty, Sens et Non-sens, Paris 1948.
INHALT
Abkurzungen VI
Einleitung
I
I DAS STETS WIEDERKEHRENDE DILEMMA 6
I. Der Rechtspositivismus 7
Der Ansto.6 zu rechtsphilosophischen Fragen - Der Absolutheitsan-
spruch des positiven Rechts - Die Starke des Rechtspositivismus 17
2. Die Unhaltbarkeit des Rechtspositivismus
Der normative Charakter des Rechtssystems
3. Marx und das Recht 25
Die Bedeutung der Produktionsmittel - Der Wille der herrschenden
Klasse - Recht oder Macht?
4. Rechtsnormen, Autoritat und Macht 29
Ein Beispiel zur Illustration - Die positiv-rechtliche und die rechts-
philosophische Erkenntnis - Positivismus und Staatsabsolutismus -
Kurzer geschichtlicher Oberblick
II THEORIEN UBER DIE ART DES RECHTSBEWuBTSEINS ALS UR-
SPRUNG DES RECHTSSYSTEMS 35
I. Objektivistische Erklarungen vom Ursprung des Rechtsbewu.6t-
seins 37
Stromungen innerhalb des Objektivismus - Der Objektivismus als
Form des Soziologismus - Starken und Schwachen des Objektivismus
2. Subjektivistische Erklarungen vom Ursprung des Rechtsbewu.6t-
seins 45
Stromungen innerhalb des Subjektivismus - Starken und Schwachen
des Subjektivismus
III THEORIEN UBER DEN RELIGIOSEN URSPRUNG DES RECHTSBE-
WUBTSEINS UND DES RECHTSSYSTEMS; DAS NATURRECHT 51
I. Direkte und indirekte Beziehungen zwischen Rechtssystem und
Gott 51
Inhalt IX
2. Das unausrottbare Heimweh; Das Naturrecht 52
Verschiedene Auffassungen - Natur und Naturrecht - Vernunft und
Naturrecht - Das Wesen des Menschen und das Naturrecht - Hobbes
- Spinoza
3. Protestantisch-Theologische Auffassungen 71
IV DIE THOMISTISCHE NATURRECHTSLEHRE 77
Natur als Teleologie - Kritischer Riickblick - Theologie? - Was ist
,Natur' und ,natiirlich'? - A-historischer Individualismus - Erkennt
nistheoretischer Objektivismus - Eine neue Anthropologie
V INSPIRATION DES PHANOMENOLOGISCHEN DENKENS
Erste Orientierung - Die Unbezweifelbarkeit des Subjekts - Das
,Nichts' als das Sein des Subjekts - Prioritat des Subjekts - Kein Kar
tesianismus - Ein Beweis? - Der Mensch ist Existenz - Positivitat
und Negativitat in der Existenz - Existieren als An-der-Welt-sein
Der Realismus der Phanomenologie - Die phanomenologische Re
duktion - Das ,vorstellende Denken' und das ,wesentliche Denken'
Riickblick und Schluss
VI DIE GERECHTIGKEIT ALS ANTHROPOLOGISCHE FORM DES Ko-
EXISTIERENS 147
I. Existieren ist koexistieren 148
Zwei Einwande - Einzelheiten des Koexistenzgedankens - Koexis-
tenz und kulturelle Welt - Koexistenz und natiirliche Welt - Der so-
ziale Leib des Menschen - Der Soziologismus - Noch nichts iiber die
Gerechtigkeit
2. Der Ursprung unserer Kenntnis des Wesens der Gerechtigkeit 159
Das implizite Kennen
3. Soziologische und ethische Formen des Koexistierens 163
4. Die Gerechtigkeit als Kampf gegen die Unmenschlichkeit 165
Das Barbarentum - Die Lehre yom 'Gesellschaftsvertrag' - Die Ober
windung der Unmenschlichkeit nach Sartre - Riickblick
5. Der Ursprung des Rechts 184
,Un certain lien reel et pratique des libertes entre elles' - Intermezzo
- Werner Maihofer - Die Vermittlung des 'ethischen Genies' - Der
Taumel des Menschseins - Wer entscheidet dariiber, wer ein ,ethisches
Genie' ist? - Die Rechtsphilosophie als ,Krankenhaus'
VII N ATURRECHT UND RECHTSSYSTEM 206
I. Eigenschaften des Naturrechts 206
,Katalog von Naturrechten' - Transhistorizitat und Intersubjektivi-
tat des Naturrechts
2. Naturrecht und positives Recht 212
Die Notwendigkeit des Rechtssystems - Autoritat und Macht - Posi-
tive Rechtsnormen - Ein stets wiederkehrendes MiJ3verstandnis
x Inhalt
3. Leben in und nach dem Rechtssystem 227
Rechtsleben und Liebesleben - Der 'Druck' des Rechtssystems als
QuasiprozeB - Eine antipersonalistische Auffassung?
4. Die Veranderlichkeit des Rechtssystems 236
Liebe kennt keine Grenzen; das Rechtssystem ist nie ,fertig' - Die
Veranderlichkeit der tatsachlichen Verhaltnisse und Umstande - Die
,Natur der Sache' - Die Notwendigkeit der Liebe
5. Der Friede: ,Gnadenzustand der Nationen' 244
Gewalt zur Abwehr von Gewalt - Die Unmoglichkeit eines gerechten
Krieges - Die Unmoglichkeit eines gerechten Pazifismus - Hat die
Geschichte einen Sinn? - SchluBfolgerung
EINLEITUNG
Eine Gesellschaft ist nicht wert, was die Prinzipien ihrer Verfassung
wert sind. An den Aufschriften ihrer Monumente und den Phrasen
ihrer Festredner kann niemand ermessen, wie weit es eine Gesellschaft
bei der Verwirklichung ihrer Menschlichkeit gebracht hat. Eine
Gesellschaft ist wert, was die Verhaltnisse von Mensch zu Mensch
innerhalb dieser Gesellschaft wert sind.!
Nicht selten kommt es vor, daB die tatsiichlichen Verhiiltnisse mit
dem Hinweis auf Prinzipien verwischt und in Mystifikationen gehiillt
werden. Nicht selten werden diese Prinzipien ,heilig' und ihre Giiltig
keit ,ewig' genannt. Nicht selten werden sie gerechtfertigt, indem man
sich auf gottliche Garantien beruft. Inzwischen jedoch steht fest, und
es wird sich daran auch in Zukunft nichts iindern, daB jemand, der sich
auf ,heilige,' ,ewige' und ,von Gott garantierte' Prinzipien beruft,
damit noch nicht beweist, daB die tatsiichlich bestehenden Verhiilt
nisse unter den Menschen in einer Gesellschaft wirklich menschlich
sind. Menschlich sind die Verhaltnisse erst dann, wenn sie die An
erkennung des Menschen durch den Menschen einschlieBen und dieser
Anerkennung Gestalt geben.
Aus dieser Oberzeugung heraus ist die vorliegende Schrift iiber das
Recht geschrieben worden. Ich werde nicht aufhoren, diese meine
Oberzeugung zu rechtfertigen, aber dennoch scheint es mir angebracht,
bereits auf der ersten Seite dieses Buches ausdriicklich auf die Grund
inspiration dieses Buches hinzuweisen.
Ich habe mich nicht gescheut, den Terminus ,Naturrecht' zu gebrau
chen, obwohl ich weiB, daB es viele gibt, die diesen Terminus nicht
mehr Mren wollen. DaB sie so reagieren ist verstiindlich, denn sobald
1 M. Merleau-Ponty, Humanisme et terreur, Paris 1947, Preface, X.
2 Einleitung
man tiber das Naturrecht sprechen hort, denkt man sofort an bestimm
te Auffassungen. Nun kann es geschehen, daB jemand aUe Auffassungen
tiber das Naturrecht ablehnt, die er aus der Geschichte kennt. In
diesem Fall ist es verstandlich, wenn er den Terminus tiberhaupt nicht
mehr zu horen wunseht.
Wenn wir hier den Terminus ,Naturrecht' dennoeh gebrauchen, so
liegt das nicht daran, daB ieh meine, diejenigen, die aUe Interpretatio
nen der Tradition meinen ablehnen zu mussen, hatten irgendeine
Auffassung ubersehen. leh gebrauche den Terminus ,Naturreeht,' weil
es seit 25 Jahrhunderten eine Tradition naturrechtlichen Denkens gibt.
leh werde noch naher darauf eingehen mtissen, was das bedeutet. Fur
mieh bedeutet eine soleh lange Tradition jedoch in jedem Fall die
GewiBheit, daB die denkende Menschheit in ihrer Geschichte etwas
,gesehen' hat, was sich offensichtlich sHindig aufdrangt. Deshalb will
ich auch den Terminus beibehalten.
Fur die Beibehaltung des Terminus spricht noch ein Zweites. In der
heutigen Philosophie geschieht es immer wieder, daB Philosoph en sieh
weigern, bestimmte Termini zu gebrauchen, obwohl sie wissen, daB
diejenigen, die diese Termini gebrauchen, damit nicht eine Inter
pretation verbinden, die unhaltbar ist. Statt dessen versuehen sie
andere zu zwingen, den Gebrauch eines solehen Termini aufzugeben.
Man legt also einen bestimmten Terminus auf eine falsche Interpreta
tion fest und meint, daB schon der Gebraueh des Terminus per se die
umstrittene Interpretation mit sich bringt.
Diese Raltung ist ein Grund fUr viele Verwirrungen. Urn uns auf
den Gebrauch des Terminus ,Naturrecht' zu beschranken: Wer diesen
Terminus einfach ablehnt, bekommt sofort von anderen zu horen, er sei
ein Rechtspositivist. Wenn er jedoeh im Grunde gar kein Rechts
positivist ist, wird er versuchen, dies klar zu machen, indem er zeigt,
daB er die Bedeutung des Rechtssystems nicht verabsolutiert, weil er
einen reehtfertigenden Grund und eine kritische Norm fUr dieses
Rechtssystem anerkennt. Die Position Ranz Welzels ist hierfUr sehr
aufsehluBreich. Er lehnt zwar das Naturrecht ab,2 moehte aber nicht
unter die Rechtsposltivisten im ublichen Sinn eingereiht werden, denn
er nimmt ein Prinzip an, das jedem positiven Gesetzt zwar nicht seine
zwingende, wohl aber seine verpflichtende Bedeutung abnehmen kann.3
2 Hans Welzel, Natuffecht und Rechtspositivismus, in: Festschrift fiir Hans Niedermeyer,
Gottingen 1953, 279-289.
3 ,Wo also ein staatIicher Befehl die Person zur blossen Sache degradiert ... dann kann er
vielleicht noch z!~ingen, sofern die Macht stark und das bei Befehlsweigerung angeordnete
Ubel schwer genug ist, aber er kann nicht mehr verpflichten.' Hans Welzel, a.c., 293-294.