Table Of ContentMETZLER AUTOREN LEXIKON
METZLER
AUTOREN
LEXIKON
Deutschsprachige Dichter
und Schriftsteller
vom Mittelalter his zur
Gegenwart
Zweite) iiberarbeitete und enveiterte Aujlage
Herausgegeben von Bernd Lutz
J.
Verlag B. Metzler
Stuttgart· Weimar
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Metzler-Autoreu-Lexikon : deutschsprachige Dichter und
Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart / hrsg. von
Bernd Lutz. - 2., uberarb. und erw. Aufl. - Stuttgart; Weimar:
Metzler, 1994
ISBN 978-3-476-00912-8
NE: Lutz, Bernd [Hrsg.]; Autoren-Lexikon
ISBN 978-3-476-00912-8
ISBN 978-3-476-03477-9 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-03477-9
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© 1994 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Urspriinglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1994
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EIN VERLAG DER ~ SPEKTRUM FACHVERLAGE GMBH
Vonvort zur ersten Aujlage
Wer sich als Literaturleser einen Eindruck von den Daten, den Lebensumstinden, dem
LebenspIan, dem literarischen Konzept und den wesentlichen Werken eines Autors der
deutschen Literaturgeschichte verschaffen mochte, ist auf zwei Auskunftsmittel ange
wiesen: die zahireichen Literaturgeschichten, die aIten und die neuen, und die dazu
vorhandenen biographischen Lexika. Relativ rasch wird man zu der Einsicht gelangen,
daB weder die Literaturgeschichten noch die biographischen Lexika einen anschau
lichen und faBbaren Begriff der Persi:inlichkeit des Autors vermitteln. Die Literaturge
schichten konnen diesen Anspruch nicht erfulIen, weiI sie das Subjektive tibergreifende
Momente der SoziaIgeschichte, der literarischen Institutionen, der Gattungsgeschichte
und der literarischen Kommunikation in den Vordergrund zu stellen haben. Die
biographischen Lexika dagegen setzen ihren Ehrgeiz in die moglichst vollstandige
Nennung der annahernd 3000 Autoren, die bekannt geworden sind - wo sie sich nicht
raumlich oder zeitlich von vornherein Beschrankungen auferlegen. Zuletzt sehen sie
sich aliesamt zu bedenklichen Vereinfachungen gezwungen: Die Daten zu Leben und
Werk werden ohne thematischen Zusammenhang bekanntgegeben; aufgrund der
notwendigen Verknappung fallen literarhistorische WerturteiIe fast zwangslaufig pIa
kativ aus; eine Gewichtung wesentlicher Autoren der deutschen Literaturgeschichte
gegentiber den kIeineren Lichtern driickt sich alIenfaIls tiber die Menge der nur in der
Nahe groBerer Bibliotheken zuganglichen Sekundarliteratur aus, mit der die einzelnen
Artikel substanzieII untermauert werden sollen.
Mit der Konzeption dieses Lexikons deutschsprachiger Autorinnen und Autoren ist
der Versuch gemacht, die Verfahrensweisen der Literaturgeschichte und der Biogra
phik Iebendig und eindringlich miteinander zu verbinden. Das Konzept dieses Buches
kann gewinnen, wo es der Literaturgeschichte gegeniiber zu verstehen gibt, daB es mit
dem reflektierenden Zugriff, der DarsteIIung des »literarischen Prozesses« allein nicht
getan ist, wenn es um die Erfassung der FtiIIe und der Zufhlligkeiten des literarischen
Lebens geht. Dadurch ist ein Buch zustande gekommen, das viel Verstandnis fur das
mitunter Ratselhafte und Bizarre der schriftsteIIerischen Existenz abverlangt. Die
Schar der schreibenden Hoilinge und RebeIIen, der Alkoholiker und Drogenstichti
gen, der Weiberhelden und der Verfechter asketischer Ideale, der lechzenden Amter
aspiranten und der saturierten Couponschneider legt alles andere als den verklarenden
Eindruck von den »Leiden groBer Meiste!« nahe. Die beabsichtigte erzahierische Inten
sitat der einzelnen Artikel muBte zwangsIaufig zu Lasten der Vollstindigkeit gehen. Es
werden daher nur diejenigen Autoren behandelt, die in der Literaturgeschichte im
allgemeinen Rang und Namen haben. DaB das Feld interessanter Autorinnen und
Autoren bei weitem nicht ausgeschopfr ist, wird insbesondere fur das 19. und 20.
Jahrhundert bewuBt; doch waren hier, was Schreibkapazitit, Umfang und Zeitpunkt
der Fertigstellung des Buchs betreffen, rasch Grenzen eneicht, die einen ersten EinhaIt
geboten haben.
Dieses Buch stellt eine GemeinschaftsIeistung von tiber einhundert Literaturwissen
schafrIern des In-und AusIands dar. Sie haben sich mit groBer Umsicht und GeduId der
Aufgabe gesteIlt, auf (Ietzten Endes doch wieder) knappem Raum »ihre« Autoren zur
Geltung zu bringen. Sie haben dies umso bereitwilliger getan, als sie nicht nur einem
raschen Inforrnationsbedtirfuis dienen, sondern vor aHem zum »Weiterlesen«, zur
Weiterbeschaftigung mit der schwierigen und vertrackten Sache der Literatur anregen
wollen.
Zu danken ist denjenigen, die beim Zustandekommen des Buches geholfen haben:
Heidi OBmann, Christel pfltiger und Susanne Wimmer.
Stuttgart, im August 1986 Bernd Lutz
Vcmvott zur zweiten Aujlage
Das Metzler Autoren Lexikon ist zahlreich rezensiert und insgesamt als neuartiges lexikali
sches Unternehmen begriiBt worden. Bemangelt wurden regelmaBig »fehlende« Auto
rinnen und Autoren, tiber die man gerne etwas gelesen hatte. Der Herausgeber der
ersten Auflage war sich dieser Tarsache durchaus bewuBt und hat deshalb von »einem
crsten Einhalt« gesprochen, der gemacht werden muBte. Aufgrund des groBen Erfolges
konnte die zweite Auflage weiter ausgreifen, vor allem im 20. Jahrhundert und in der
unrnittelbaren literarischen Gegenwart. Das innerlirerarische Beziehungsgdlechr ist
damir dichrer geworden. Mehr als eine »gegliickte Auswahl« kann bei einem einbandi
gen Lexikon nicht gelingen, damit ein wenig Spiegel des Verrnachtnisses der deutschen
Literatur, deren Ausdruckssrarke unter einem abstrakten Vollstandigkeitsanspruch sehr
zu leiden beganne. An dieser Stelle ist fur ihre ratige Mithilfe zu danken: Eva-Maria
Eckstein, Martina Gronau, Heidi OBmann, Andrea Rupp und Sigrun Ztihlke.
Stuttgart, im April 1994 Bernd Lutz
ABRAHAM A SANCTA CLARA 1
Abraham a Sancta Clara
Geb. 2.7-1644 in Kreenheinstetten b.Mefikirch;gest. 1.12. 1709 in Wien
Johann Wolfgang Goethe behielt recht, als er Friedrich Schil
ler einen Band mit Schritten von A. zusandte und dazu
bemerkte, sie wiirden ihn »gewill gleich zu der Kapuzinerpre
digt begeistern« (s. ro. 1798). Denn Schiller fand hier das
Material, das er brauchte, urn den Auftritt des Kapuziners in
Wallensteins Lager mit Leben zu erfullen, und er iibernahm cha
rakteristische Merkmale von A.s volksrumlichem Predigtstil,
die Wortspiele, die Reihungen, die lateinisch-deutsche Misch
sprache, die Verbindung von drastischem Ton und hoherem
Anliegen. So setzte er .Pater Abraham«, diesem »prachtige(n)
Original«, mit all seiner .Tollheit« und »Gescheidigkeit« ein
Denkmal, das nachhaltiger wirkte als das wesentlich komplexere Werk des Predigers.
A., eigentlich Hans Ulrich Megerle, Gastwirtssohn, war nach dem Besuch der Latein
schule in MeBkirch, des Jesuitengymnasiums in Ingolstadt und des Benediktinergymna
siums in Salzburg 1662 in den Orden der Reformierten Augustiner-BarfuBer eingetre
ten. Das Noviziat absolvierte er im Kloster Mariabrunn bei Wien, und von da an stand
Wien im Mittelpunkt seines Wirkens, wenn er auch gelegentlich Aufgaben an anderen
Orten wahrnehmen muBte (so war er von 1670 bis 1672 Wallfahrtsprediger im Kloster
Taxa bei Augsburg und von 1686 bis 1689 Prior im Grazer Kloster seines Ordens). Nach
der Priesterweihe (1668) und seiner Ernennung zum Kaiserlichen Prediger (1677) -
Kaiser Ferdinand II. hatte dem Orden die Seelsorge an der kaiserlichen Hofkirche iiber
tragen - machte er »Karriere« in seinem Orden, dem er in hohen seelsorgerischen und
administrativen Funktionen diente, zeitweise auch als Vorsteher der deutsch-bohmi
schen Ordensprovinz.
Vor allem jedoch verstand er sich als Prediger, und sein Werk ist untrennbar mit die
ser Funktion verbunden. Das gilt auch fur die Schritten, die formal eigene Wege gehen
und mit den iiblichen literaturwissenschafi:lichen Gattungskriterien nur schwer zu
erfassen sind. Drucke seiner Predigten erschienen von 1673 an, als er »Vor der gesamb
ten Kayser!. Hoffstatt« eine Lobpredigt auf Markgraf Leopold von Osterreich hielt
(Astriacus Austriacus Himmelreichischer Oesterreicher). Sein Publikum erreichte und faszi
nierte er durch eine unwiderstehliche Verbindung von Ernst und Komik, von tiefer
Frommigkeit, gezielter Satire und »barocker« Sprachgewalt; dem intendierten morali
schen und geistlichen Nutzen dienten auch die zahlreichen Zitate kirchlicher und anti
ker Autoren, die Gedichteinlagen und die eingeflochtenen exemplarischen Geschich
ten und Wundererzahlungen (»Predigtrnarlein«).
Seine bekanntesten Schritten entstanden aus aktuellem AnlaB, der Pestepidemie von
1679 und der Belagerung Wiens durch die Tiirken 1683: Mercks Wienn (1680), eine Ver
bindung von Pestbericht, Predigt und Totentanz (»Es sey gleich morgen oder heut /
Sterben miissen aile Leuth«); Losch Wienn (1680), eine Aufforderung an die Wiener, die
Seelen ihrer durch die Pest hingerafften Angehorigen durch Gebet und Opfer aus dem
Fegefeuer zu erlosen; und Auf[/ auff lhr Christen, ein Aufruf zum Kampf wider den Tiircki
schen Bluet-Egel (1683). Dariiber hinaus belebte A. die traditionelle Standesatire und die
2 ABRAHAM A SANCTA CLARA
Narrenliteratur (z.B. Wunderlicher Traum Um einem grossen Narren-Nest, 1703), pflegte den
Marienkult und sorgte fur erbauliche Unterweisung mit Hilfe von Ars moriendi (Ster
bekunst) und moralisierender Emblematik (Huy! und Pfuy! Der Welt, 1707). Seine Erfah
rungen als Prediger flossen in die groBen Handbticher, Exempel-und Predigtsammlun
gen ein: Reimb dich oder Ich lift dich (1684), Grammatico Religiosa (1691) und als herausra
gendstes Beispiel dieser Werkgruppe Judas Der Ertz-Schelm (4 Teile, (cid:49)(cid:54)(cid:56)~(cid:53)(cid:41) - kein epi
scher Versuch, sondern eine Art Predigthandbuch, das die Lebensgeschichte des Judas
als formalen Rahmen benutzt und jede Station, jedes Laster zum AnlaB einer warnen
den Predigt nimmt, die es nicht verfehlt, die »sittliche Lehrs-Puncten« auf anschauliche
Weise zu illustrieren.
Der Beifall, den man seit Klassik und Romantik A.s »Witz fur Gestalten und Worter,
seinem humoristischen Dramatisieren« spendet Gean Paul), darf freilich nicht damber
hinwegtauschen, daB es sich fur den Prediger nur urn Mittel zum Zweck handelt, urn
Elemente einer im Dienst der »allzeit florierenden/regierenden/victorisirenden
Catholischen Kirchen« zielstrebig eingesetzten Oberredungskunst.
Literatur: Franz M. Eybl: Abraham a Sancta Clara. Tiibingen 1992; Abraham a Sancta Clara.
Ausstellungskatalog. Karlsruhe 1982. VOlker Meid
Achternbusch, Herbert
Geb. 23.11. 1938 in Miinchen
Was an A. auffallt, ist seine Verwandtschaft mit EulenspiegeL
In seinem Theatersruck Gust (1984) bittet die sterbende Ehe
frau Gust urn ein »stiBes Wort«, und Gust, der Nebenerwerbs
irnker, stammelt vor sich hin: .Honig«. Das war auch die Ant
wort Eulenspiegels auf dieselbe Bitte der an seinem Sterbela
ger sitzenden Mutter. Es sind aber nun nicht nur die Kalauer,
von denen Eulenspiegel und Achternbusch ausgiebig Ge
brauch machen, sondern es verbindet sie etwas im Kern ihrer
Haltung. Die deutschen Bauern wurden mit dem Beginn der
Neuzeit auf ihr Land festgenagelt wie der Gmnewaldsche
Christus ans Kreuz: die meisten von ihnen ging bis ins
19.Jahrhundert in die sog. »zweite Leibeigenschaft«. Wenn nun einer in einem Yolk,
das zu 95% aus Bauern besteht, kein Bauer sein will und auch kein Handwerk lernt,
dann ist das schwierig. Till ist der bodenlose Bauer, der seinen Acker veriaEt, weil man
von ihm nicht mehr leben bnn. Er zeigt uns, wie ein Neubau einer stadtischen, spater
btirgerlichen Gesellschaft nicht gelingen kann, wenn die Bauernfrage, d.h. das Verhalt
nis der Menschen zu ihrem Land, das ist also auch die Fragc der nationalen Identitat,
nicht gelost ist. So erscheint Eulenspiegel den Stadtern und den Herren, und man bnn
sagen, daB das MiBlingen der deutschen Geschichte im 2o.Jahrhundert Eulenspiegel
bestatigt hat. Und nun kehrt in A., der von bayrischen Bauern abstammt, dieselbe
Bodenlosigkeit wieder. Was ihn im Kern mit Eulenspiegel verbindet, ist die Absurditat
der Haltung: »Du hast zwar keine Chance, aber nutze sie!« (Die Atlantikschwimmer,
ACHTERNBUSCH 3
1978), Dies ist die Lebenslosung Eulenspiegels und mag auch fur A.s Lebens gelten,
wenn man manches aus den Ich-Erzahlungen fur bare Munze nimmt. Bestimmt aber
gilt sie fur seine Arbeit. »Wenn das schon Dumrnkopfe sind, denen meine Bticher gefal
len, was mussen das erst fur Dumrnkopfe sein, denen sie nicht gefallen« (Revolten, 1982).
Ruckt man seine Bucher, Filme, Theatersrucke und Bilder in die Tradition der Eulen
spiegelstreiche, so versteht man sie richtig. Eulenspiegel hat z.B. auf dem Bremer
Marktplatz Milch in einen groBen Bottich gieBen lassen, also Milchmengen gesammelt,
mit denen eine mittelalterliche Bauemgesellschaft oder friihe Stadtbewohner auf kei
nen Fall sinnvoll umgehen konnten. Die Absurditat dieses Bildes konnen wir he ute, zur
Zeit europaischer »Milchseen« und »Butterberge«, kaum noch nachemplinden. Die
Dinge sind uns tatsachlich so weit tiber den Kopf gewachsen, daB fur unsere Zeit die
dem Eulenspiegelschen entsprechenden Absurditaten andere Bilder erfordem. Man
erkennt aber im folgenden Beispiel von A. immer noch das Prinzip des grotesken
Milchzubers, in dem absurde Harmonie entsteht: »Urspriinglich war ich ein gelemter
Flugzeugmaurer. Fur 25 Mark in der Stunde habe ich mit Kelle und Wasserwaage Mau
em in Flugzeugen hochgezogen. Wie es keinen Treibstoff mehr gegeben hat, habe ich
fur Kontergankinder Fuhrungen in Atomkraftwerken gemacht. Wenn ich sie was
gefragt habe, dann haben sie hier an der Schulter die Finger gehoben. Ich habe ihnen
erklart, daB die Atornkraft den Menschen die Arme erspart« (Das [etzte Loch, 1981).
Liest man Artikel und Bucher uber A., dann fallen immer wieder dieselben Warter:
assoziativ, Autbegehren, bayrisch, chaotisch, dilettantisch, eigensinnig, individuell, radi
kal, subjektiv, ungebardig, utopisch, verwundet, zornig. Zwei Begriffe sind bisher nicht
(oder ganz vereinzelt!) genannt worden. Sie haben auch mit Eulenspiegel zu tun: Realis
mus und Aufklarung. Man kann sagen, daB die Hauptlinie der »Dialekt der Aufkla
rung«, die Linie des Verstandes, der instrumentellen Vemunft in unserem Jahrhundert,
dem Jahrhundert der Verwiistungen, in ihrem Scheitern zu erkennen ist. Jetzt werden
die vergessenen, Iiegengelassenen Nebenlinien interessant. Es gab eine »Aufk:larung vor
der Aufklarung« des 17. und 18.]ahrhunderts, der die Verengung auf das gerade Denk
vermogen des Menschen fremd war. Rabelais, Cervantes, Boccaccio, Shakespeare, um
ein paar beriihmte Namen zu nennen, hatten den Ursprungssatz der Vernunftaufkla
rung »Ich denke, also bin ich« vielleicht nicht verstanden und ihn fur wenig realistisch,
d.h. der Natur des Menschen gemaB gehalten. Von dieser Au&larung vor und neben
der Aufklarung, die auf breiterer, aber ungeordneterer, unubersichtlicherer Grundlage
fuBt, geht ein starker komischer Impuls aus, der sich in Menschen wie A. und seinen
Lesern und Guckern wieder bemerkbar macht. Ihr Hauptprinzip heiBt »Aufklarung
durch Vernebelung« (Heiner Muller), d.h. sie wiirden das Gebot »sapere aude!« nie
aussprechen, weil sie der Wirkung direkter, linearer, verstandiger Komrnunikation
rniBtrauten. Von diesern Prinzip leben auch A.s Arbeiten: »Ich rnachte aber Filme,
die niemand versteht. Friiher hat man einen Bachlauf nicht verstanden, heute wird
er begradigt, das versteht ein jeder.« »Es geht nicht rnehr darurn, dieses burgerliche
Verbrecherturn zu beweisen, sondem unverscharnte Behauptungen in die Welt zu
setzen. Die Literatur soil erlinden... Die Erfahrung soll springen, in Erlindungen
springen.« 1st es nicht immer noch uberraschend, daB Kant in seinem beriihmten Auf
satz »Beantwortung der Frage: Was ist Au&larung?« (1783) als erstes Beispiel von
Unmundigkeit die Abhangigkeit yom Buch anfuhrt? »Es ist so bequern, unmundig zu
4 ACHTERNBUSCH
sein. Habe ich ein Buch, das fur mich Verstand hat, einen Seelsorger, der fur mich
Gewissen hat, einen Arzt, der fur mich die Diat beurteilt, usw.: so brauche ich mich ja
nicht selbst zu bemuhen.« Natiirlich meint Kant mit dem Buch das damals beherr
schende Buch, die Bibel. Aber das Verhaltnis der Leser zum Geschriebenen mU£ sich
nicht dadurch andern, daB an die Stelle der Bibel inzwischen aile moglichen Bucher
oder auch Filme, Fernsehen u.a. getreten sind. Auch Bucher wie die von Kant, die in
emanzipatorischem Interesse verfaBt wurden, konnen sich gegen die Gewohnheit
unrnundigen Lesens schlecht wehren. Aus diesem Scheitern zieht A. die Konsequenz,
Bucher zu schreiben, die uberhaupt keinen Verstand haben und daher auch keinen
»rur mich« haben konnen. Das Vertrauen auf den Unsinn (von Erfindung und Erfah
rung), Komik, will ein Hemmnis gegen unrntindiges Lesen sein, denn unsinnigen Sat
zen kann man nicht sklavisch-verstandig folgen. ~(cid:76)(cid:97)(cid:99)(cid:104)(cid:101)(cid:110) ist ein guter Ausgangspunkt
rur Denken.«
Wer an dem Begriff der Erfahrung festhalt, kann kein Gegenaufklarer sein. Es kann
sich dabei irn Usprung und Kern nur irnmer urn die eigene Erfahrung handeln. (Das
gilt, nebenbei bemerkt, sogar rur den abstrakten Denker Kant, dem die theoretische
und praktische Vernunft zwar gebietet, Reisen fur etwas unbedingt Notwendiges zu
halten, der aber, urn nicht mit dem eigenen Verhalten in Konflikt zu geraten, dann die
Einschrankung macht: aU£er, wenn man in Konigsberg, einer Stadt an FluB und Meer
wohnt, denn dann komme ja die Welt in die Stadt.) Auf die Einsicht der Bedrohung der
Welt griindet sich Achternbuschs Realismus. ~(cid:73)(cid:99)(cid:104) bin der Erfinder der Individuellen
Kunst, Erfinden kann man die leicht, aber durchsetzen!« Die seit dem 18.Jahrhundert
benutzten kunstlerischen Formen, die alten Behalter der Erfahrung, konnen die leben
dige, also zunachst individuelle Erfahrung der Gegenwart auf keinen Fall mehr fassen:
»Wer eine spezielle literarische Form pflegt, mag er auch noch so ideologische Fassa
denpflege betreiben, dient dem blockhaften politischen System. Jeder Roman ist eine
totale politische Institution.« Die Grundform A.s ist der Assoziationsstrom, der aber als
Naturform der Phantasie, nicht als Kunst bezeichnet werden muS. Sein Realismus
besteht gerade darin, ein kunstloser Ktinstler zu sein. Dies zieht die Feindschaft der
Burokratie (Das Gespenst, 1983), der Ritter des Kulturbetriebs und der Traditionalisten
auf sich. Aber es sichert ihrn die Zuneigung der Kunstler, und zwar auch solcher, die gar
nicht zueinander und zu ihrn zu passen scheinen. Sie bemerken, daB hier einer die Wur
zeln der Kunst, d.h. nichtentfremdeter Produktivitat offen halt, so daB man daran
anknupfen kann.
Zusammenhange sind oft unterirdisch. Man muB nicht bestreiten, daB A. mit den
haufig genannten Kameraden irn Geiste (Karl Valentin, Oskar Maria Graf, Charlie
Chaplin, Buster Keaton, Marx-Brothers, Jean Paul, auch mit Robert Walser und Franz
Kafka) offenkundig vieles verbindet, wenn man auf andere, weniger offenkundige
Bezuge hinweist. Dazu gehort z.B. eine geheirne Verwandtschaft mit Robert Musil. Fiir
ein dekadentes Lebensgefuhl, welches seine Zeit bestimmte, £and Musil folgendes Bild:
»Satze wie dieser schmecken so schlecht wie Brot, auf das Parfiim ausgegossen wurde,
so daB manjahrzehntelang mit aIledem nichts mehr zu tun haben mag.« In A.s Film Der
Depp (1982) wird folgendes Gericht serviert: »Das Sauerkraut mit dem Schokoladen
herz«. Beide Bilder zeigen einen Weltekel, dessen deutscher komischer Archetyp
Eulenspiegel ist, unterscheiden sich aber stadtisch (Wien, burgerlich, ironisch) und