Table Of ContentMahler im Gespräch
Michael Gielen / Paul Fiebig
Mahler im Gespräch
Die zehn Sinfonien
J.
Verlag B. Metzler
Stuttgart • Weimar
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz für diese Publikation
ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich.
ISBN 978-3-476-01933-2
ISBN 978-3-476-02910-2 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-02910-2
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© 2002 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2002
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Inhalt
Statt eines Von(lorts
Laudatio bei Gelegenheit der Ehrenpromotion
Michael Gielen, Universität der Künste Berlin,
14. April 2000 .......................................................................... . 9
Gustav Mahler: Die Sinfonien
(und »Das Lied von der Erde«)
Sinfonie Nr. 1 D-Dur .............................................................. . 21
Sinfonie Nr. 2 c-moll .............................................................. . 43
Sinfonie Nr. 3 d-moll .............................................................. . 59
Sinfonie Nr. 4 G-Dur .............................................................. . 79
Sinfonie Nr. 5 cis-moll ............................................................ . 95
Sinfonie Nr. 6 a-moll .............................................................. . 113
Sinfonie Nr. 7 e-moll .............................................................. . 129
Sinfonie Nr. 8 Es-Dur .............................................................. . 141
»Das Lied von der Erde« ....................................................... .. 161
Sinfonie Nr. 9 D-Dur .............................................................. . 177
Sinfonie Nr. 10 Fis-Dur 195
Anhang
»Kindertotenlieder« ................................................................ . 215
Statt eines Nachworts
Zusammenarbeit (nicht nur) bei Mahler.
Michael Gielen und das SWR Sinfonieorchester
Baden-Baden und Freiburg ................................................... . 225
Nachbemerkung ........................................................................ . 233
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STATT EINES VORWORTS
Laudatio
bei Gelegenheit der
Ehrenpromotion Michael Gielen
Universität der Künste Berlin
14. April 2000
Was eigentlich bringt, erlaube ich mir eingangs zu fragen, eine
höchste Bildungsanstalt zum Ausdruck, wenn sie einen >prak
tizierenden< Musiker ehrenhalber unter ihre Doktores einreiht?
Daß sie ihn für gelehrsam hält? Daß sie - 0 Wunder! - be
obachtet hat, wie genau, schier wissenschaftlich genau es da
einer zu nehmen versucht? Genauer als üblich gewiß? Zu ge
nau hoffentlich ja nicht? In welch letzterem Falle er weißgott
besser daran täte, über seine Gegenstände (die wehrlosen
Kunstwerke) ein ums andere Mal zu reden, statt sie (und sich
damit) eigensinnig aufzuführen?
Vielleicht aber gibt besagte Bildungsstätte schlicht kund
und zu wissen, daß es ihr gehörig ins Auge respektive Ohr
stach, wie da, ausgerechnet, ein Musiker die von der Kulturin
dustrie so erfolgreich der eigenen Tasche zuwirtschaftende
Trennung von Praxis und Theorie rechts liegen läßt (ohne sich
womöglich gar darum zu scheren, daß ihm das als ein Versün
digen gegen den Gemeinschaftsgeist ausgelegt werden mag -
dessen Folgen er allerdings, wie gesagt wird, zu recht verspürt,
was glaubt er denn).
Was nun, könnte unser Bildungsinstitut neugierig sich ge
fragt haben, würde ein dieserart sonderbarer Musiker sagen,
konfrontierte man ihn mit einem Befund Ulrich Sonnemanns,
des Berliners von Geburt, wonach eine »Lage«, eine Situation,
eine Konstellation vorstellbar ist, in der Theorie »nicht nur
praktisch«, »sondern das einzig Praktische« ist? Sonnemann,
ich will es nicht verschweigen, kam zu diesem Extrem-Schluß,
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indem er lebensbedrohenden Umständen nachsann (Anfang
der vierziger Jahre als politisch, rassisch Verfolgter in Frank
reich interniert, hatte er mittels »reiner Betrachtung« - »grie
chisch theoria« - etwas vorhergesehen, das ihn, nachdem es
eingetreten, eine Wette und mit ihr das »gerade noch rechtzei
tige Entkommen« nach Amerika gewinnen ließ).
Vergleichen werde ich es nicht, das Internierungs-, gar Kon
zentrations-Lager mit dem, wie es genannt werden kann,
Partitur-Gefängnis der Noten - abgesehen davon, oder viel
mehr eben gerade nicht abgesehen davon, daß die Partitur ein
ganz und gar unblutiger, einer, wenn schon, wahrlich anderen
Konzentration dienlicher, nicht zuletzt vorübergehender Ort
ist: das Versprechen allein, das den Noten in die Papier-Wiege
gelegt ist, sie fänden eines nicht femen Tages ihre Verwirkli
chung darin, Töne zu werden, macht aus dem Unterschied
einen ums Ganze.
Und doch will daran erinnert sein, daß dieses Versprechen
einseitiger Natur ist: insofern es, vom Komponisten im Namen
seiner Interpreten gegeben, mit Kennern rechnet und auf Kön
ner trifft. Den Unterschied hat vor einem Dreivierteljahrhun
dert schon (wenn auch als erster nicht) Arnold Schönberg be
schrieben, dahingehend, daß die »fein abgetönte, wohlerwo
gene Wiedergabe der gedanklichen Verhältnisse« einer Kom
position gefordert, die »gestikulierende Vortragsart« aber die
herrschende sei.
Der Interpret als Spezialist, notabene, der, in Ermangelung
eigener und unter Umgehung heutiger Werke, sich in die ge
strigen vergafft hat, rückt das Problem seiner Lösung nicht
gerade näher. Oder doch? Sofern er sich nur der >authenti
schen< Wege besinnt, von denen es schon heißt, so befahren
sind sie inzwischen, sie hätten sich »durchgesetzt«? Oder doch
eher nicht? Weil nämlich der spezielle Spezialist als >Authenti
ker< sich das kritische Reagieren auf das, was den Werken bis
in unsere Zeiten herauf angetan wurde und wird, gar nicht erst
anzugewöhnen brauchte: hat er doch, und erlöst atmet er auf,
den goldenen Mittelweg gefunden; der, da mag Schönberg
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schon recht gehabt haben, nicht nach Rom führt zwar, dafür in
jene Gegenden zurück, wo das Vorgestrige, ja das Vergangene
an sich, unangefochten seine Zeit und sein Zuhause hat, und
wo die Spielstätten, Casinos gleich, ins Kraut schießen, seit die
ewig jungen alten Werke ihre einstige Zukunft, sprich: heutige
Gegenwart, jubelnd verspielen dürfen.
Merkwürdig schon, will ich sagen, wie da eine ganze Sekti
on des erfolgsverwöhnten Musikbetriebs die Aufführungshi
storie auf den Müllhaufen der Geschichte wirft, nicht ohne
zuvor demonstrativ deren früheste Station zur bewahrenswert
rühmlichen Ausnahme erklärt zu haben. Ganz so, als wolle sie
Adorno, mit dem sie sonst herzlich wenig am Hut hat, ein Mu
sterbeispiel nachliefern für seine Beobachtung, »unser archai
sierungsfreudiges Zeitalter« habe den »eigentümlichen Aber
glauben« sich zugelegt, »daß frühe Gedanken wahrer sein sol
len« (wobei Adorno seinerzeit verständnisvoll hinzufügte,
selbiger Aberglaube möchte wohl »eine Reaktionsbildung auf
den unentwegten Fortschrittsglauben« sein, »daß die Men
schen einfach immer gescheiter und immer gescheiter wer
den«).
Erfüllt - frage ich mich jetzt, vorsichtshalber mir ins Wort
fallend - erfüllt, was ich eben gesagt, schon den Tatbestand
des Lästerns? Hätte ich also Berganza zu gewärtigen, den spre
chenden Hund aus den Exemplarischen Novellen des Miguel de
Cervantes Saavedra, wie er mir kollegial auf die Schulter klopft
gewissermaßen mit seiner Weltweisheit: Einer, der durch län
gere Zeit hindurch eine Rede im Gang halten solle, »ohne da
bei an die Grenze der Lästerung zu kommen«, müsse wahrlich
»viel wissen und sich gut in Zaum halten«? Welche Sentenz
wie selbstverständlich im Bewußtsein trägt, daß, was einer
über einen andern sagt, allzu leicht sich und selten grundlos
den Vorwurf der Nach- oder, mit Cervantes-Übersetzer Roth
bauer zu sprechen, »Afterrede«, einhandeln kann.
Zu meiner Verteidigung, wenn sie denn nötig wäre, dürfte
ich immerhin zu bedenken geben: beim Namen genannt habe
ich niemanden noch, nicht einmal Michael Gielen, wiewohl er
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- ich gestehe es ein, aber Sie werden es sich ohnehin gedacht
haben - von Anfang an mitgemeint war. Und, nicht zu verges
sen - wenn ich das mit Cipi6ns, des Cervantes' anderen spre
chenden Hundes Hilfe noch sagen darf: gleich ob gelästert,
gestichelt, getadelt, meine Absicht war doch »rein, mag auch
die Zunge nicht danach« erschienen sein. - Besser jetzt, ich
verdrängte, daß Cipi6n da nicht das letzte Wort hat? Berganza,
der Lebenskluge: »In solchen Dingen stolpert die Zunge nie,
wenn nicht zuvor die Absicht zu Fall gekommen.«
Und warum überhaupt treibe ich mich auf diesem Neben
schauplatz herum? Nur um - mit dem Vorzug im Rücken, sie
eben veranschaulicht, praktiziert zu haben - meinerseits bei
Lebensweisheiten landen zu können, nach Art von: >Wo des
einen Tadel am höchsten, ist des anderen Lob am nächsten<?
Oder: >Nur wer auf Kosten anderer lebt< ... das Stichwort ist
gefallen, ich brauche den sinnigen Satz nicht zu vollenden -
>auf Kosten anderer<: gerade das will das Gielensche Musizie
ren sich nicht zuschulden kommen lassen.
Was genau damit benannt ist? Ich darf ein wenig ausholen
Motto, aus Goethes Märc1zen geborgt: Wer (und sei es ein Ton),
mit vielen zur glücklichen Stunde vereint, sein Amt verrichtet,
gleich jedem andern auch, hilft das allgemeine Glück in greif
bare Nähe zu rücken. (Die Erläuterung, wie Goethe sich damit
gerade nicht als ein bei Patentrezepten steckengebliebener Be
triebspsychologe zu erkennen gab? Spar ich mir.)
Also. Daß er, Michael Gielen, es genau, unüblich genau
nimmt, weiß und sagt ja schon jeder. Mit der Spruchweisheit
>Wer den Buchstaben nicht ehrt, ist des Geistes nicht wert< auf
Du und Du gewissermaßen, geht Gielen allemal von dem aus,
was dasteht, beobachtet, was er damit hat und gewinnt Sicher
heit, was zu tun ist. Zeitphilosoph Ulrich Sonnemann hätte
ihm ein »physiognomisches Auge« nachgerühmt: das sich,
übers Gaffen und Beglotzen hinaus, zur »Unmittelbarkeit« des
Erkennens, Durchschauens, Denkens befähigt (respektive fähig
gehalten) habe.
Daß Gielen überdies Auskunft geben kann über seine Be-
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