Table Of ContentIrritationen
Philologus
Zeitschrift für antike Literatur und ihre Rezeption /
A Journal for Ancient Literature and its Reception
Supplemente /
Supplementary Volumes
Herausgegeben von / Edited by
Markus Asper, Sabine Föllinger, Therese Fuhrer,
Christof Rapp, Katharina Volk
Band 2
Irritationen
Rhetorische und poetische Verfahren
der Verunsicherung
Herausgegeben von
Ramona Früh, Therese Fuhrer, Marcel Humar,
Martin Vöhler
DE GRUYTER
ISBN978-3-11-037817-7
e-ISBN(PDF)978-3-11-040100-4
e-ISBN(EPUB)978-3-11-040108-0
ISSN2199-0255
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♾GedrucktaufsäurefreiemPapier
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Inhalt
Einleitung 1
Joachim Knape
Inversive Persuasion
Zur Epistemologie und Rhetorik der ‚Rhetorik der Verunsicherung‛ 5
Therese Fuhrer
Das ‚Zeitalter der Angst‘ als Konstrukt einer Rhetorik der Verunsicherung
Eine Analyse zweier Sequenzenaus Augustins Sermones ad
populum 61
Ramona Früh
Verunsicherung im philosophischen Brief
Senecas Epistulae Morales 87
Michael Erler
Vom admirativen zum irritierten Staunen
Philosophie, Rhetorik und Verunsicherung in Platons Dialogen 109
Marcel Humar
Wiederholungen und Häufungen als rhetorische Mittel der Verunsicherung
in den Platonischen Dialogen 125
Ingwer Paul
Lehre und Gespräch
Zur Aktualität der sokratischen Dialoge für die Lehrerausbildung 147
Stephan Peters, Monika Schwarz-Friesel u. Sally Zielske
Den Gesprächspartner verunsichern, um das Publikum zu überzeugen?
Verunsicherung als persuasive Strategie in Polit-Talkshows 187
Boris Dunsch
Labefacto paulatim
Zur Rhetorik der Verunsicherung in der römischen Komödie 207
VI Inhalt
David Himpel
Rhetorik der Verunsicherung in Senecas Tragödien 239
Martin Hose
Die Logik des Irrsinns
Paradox und Phantastik in der Alten Komödie am Beispiel der Wolken des
Aristophanes 259
Martin Vöhler
Die Verunsicherung des tragischen Helden
Zum Oedipus Rex von Sophokles 277
Renate Schlesier
Unsicherheiten einer poetisch-erotischen Welt
Anreden und Konstellationen von Personen bei Sappho 297
Index nominum et rerum 323
Index locorum 327
Einleitung
Als die „Kunst, gut zu reden“¹ zielt die Rhetorik auf die Realisierung der Per-
suasion,dieimÜberredungserfolggesuchtwird.DieserErfolgstelltsichein,wenn
der Adressat einen Wechsel seiner Überzeugung von einer Position A zu einer
PositionBvollzieht.IstderPositionswechsel(z.B.durchdieZustimmung)evident
geworden,sogiltderpersuasiveAktalsgeglückt.²UnterdemGesichtspunktdes
Überredungserfolgs erscheinen Rede und Dialog als affirmative, auf Verständi-
gungausgerichteteKommunikationsformen.³
Die leitende These der in dem vorliegenden Band versammelten Beiträge
lautet, dass weder die antike (rhetorische und poetische) noch die moderne
(diskurs- und kognitionslinguistische) Theoriebildung bislang den Prozess der
IrritationundVerunsicherung⁴desRezipienten,derdemVorgangderPersuasion
vorangeht,hinreichendreflektiertundauchnichtsystematisierthaben.Mitdem
durch das Überzeugungsverfahren initiierten Standpunktwechsel verlässt der
Rezipientseinezunächstargumentativabgesicherteoderalssichergeglaubteoder
auchnaivbehauptetePosition(A).DieAufgabederursprünglichenPositionbildet
den Ausgangspunkt der Analysen. Die Beiträge konzentrieren sich auf die Stra-
tegienzurHervorbringungvonVerunsicherung,diedieursprünglicheGewissheit
inFragestellen.EsinteressiertalsoinersterLiniedasrhetorischeundpoetische
Potenzial textuell fassbarer Äußerungsakte, Gewissheiten zu erschüttern, fest
strukturierteGedankenaufzuweichen,gefestigteMeinungen,Einstellungenoder
Verhaltensweisenzuhinterfragen,Zweifelzuerzeugen,mithindieEntstehungder
Ermöglichungsbedingung neuer Gewissheiten.Verunsicherungwird als Störung
dermenschlichenÄquilibrationstendenzwahrgenommenundtendiertdaherzur
Herausbildung neuer stabilisierender Positionen. Die Untersuchungen konzen-
trierensichaufdieIrritationundVerunsicherungalskommunikativeGeschehen;
esgehtdarum,einenAktdes‚Irritierens‘und‚Verunsicherns‘mitallseinenUn-
kalkulierbarkeiten,WiderständenundWendungenzuanalysieren,nichthingegen
darum, das Resultat (Irritation oder Verunsicherung im Sinn des Irritiert- oder
Verunsichertseins)zubestimmen.
SoQuint.inst.2,17,37;vgl.auch2,14,5.
Knape(2003)874–907;vgl.Ortak(2004).
ZurKommunikationalsVerständigungshandlungvgl.Buddemeier(1973).
Mit dem Begriff ‚Irritation‘ wird ein breites Spektrumvon Erfahrungen und Emotionen ab-
gedeckt,indemderengereBegriffder‚Verunsicherung‘enthaltenist.ZumBegriffderIrritation
imKontextdersystemtheoretischenLiteraturwissenschaftvgl.Simonis(2011).
2 Einleitung
DenIrritationsvorgang,seineBedeutungundReichweitemageinkurzerBlick
auf den Platonischen Sokrates verdeutlichen. Dessen philosophische Methode
kann (zumindest in den frühen Dialogen bis zum Menon) als eine kalkulierte
ErzeugungvonVerunsicherunggefasstwerden.BevorsichSokratesdaranmacht,
dieeigenenZeitgenossenaufdemMarktplatzvonAtheninFragezustellen,erfährt
ereinegrundsätzlicheInfragestellungdeseigenenSelbstverständnisses.Apollon
lässtihmbekanntlichmitteilen,dasskeinMenschweiserseialser.DieFragenach
demeigenenWissen,diederOrakelspruchausDelphierzeugthatte,wirdfürden
Philosophen zum InitialunablässigerGespräche mitdem Ziel der Wissensüber-
prüfung.SokratesentwickelteineMethodedesInfragestellens,derenWirkungauf
dieAthenerSørenKierkegaardfolgendermaßenbeschreibt:
ErbrachtedaherdieIndividuenunterseinedialektischeLuftpumpe,beraubtesiederat-
mosphärischenLuft,diesiegewohntwareneinzuatmen,undließsiestehen.Nunmehrwar
allesfürsieverloren,außersofernsieetwaimstandewaren,ineinerätherischenLuftzu
atmen. Sokrates hingegen hatte mit ihnen nichtsweiter zu schaffen, sondern hastete zu
neuenExperimenten.⁵
Indem Sokrates seine Gesprächspartner ihres vermeintlichen Wissens beraubt,
führtersiezurEinsichtindieeigeneUnwissenheit(„Aporie“),diewiederumzum
Antrieb wird,einen Zustand neuer (wissender) Gewissheit zu erlangen. Das Ex-
perimentieren mit der „dialektischen Luftpumpe“ ist aber nur eine der Irritati-
onsstrategien,denen dervorliegendeBand sich zuwendet.Das Zielderhier zu-
sammengestelltenStudienliegtinderProfilierungverschiedenerrhetorischerund
poetischer Verfahren der Verunsicherung und Irritation. Hierfür verbinden sich
VertreterinnenundVertreterderKlassischen Philologie,derSprach-undLitera-
turwissenschaft,der Rhetorikund Religionswissenschaft,um inwechselseitiger
Ergänzungihrermethodischunterschiedlichen,empirischen,theoretischenund
historischenAnsätzediefunktionaleSeitederIrritationanhandvoneinschlägigen
Beispielenzuuntersuchen. DerFokusliegtdabeiaufdemPersuasionspotenzial
derrhetorischenundpoetischenStrategien.
DerBandgründetsichwesentlichaufdieErgebnissedesProjekts„Rhetorik
der Verunsicherung – Muster negativer Affekt-Strategien und ihre persuasive
Funktion“, das im Rahmen des Berliner DFG-Clusters „Languages of Emotion“
über drei Jahre (2010–2013) gefördert wurde. In den von Therese Fuhrer und
MartinVöhlergeleitetenTeilprojektenzurrömischenundgriechischenLiteratur
wurden Texte behandelt, in denen ein Orator (mit einer politischen Rede oder
Gerichtsrede) oder ein Gesprächspartner im (philosophischen) Dialog auf sein
Kierkegaard(1976)178f.
Einleitung 3
Publikum oder Gegenüber persuasiv einzuwirken sucht. Zum Studium rhetori-
scherbzw.philosophischerStrategienderVerunsicherungerwiesensichetwadie
RedenCiceroswieauchfrühenDialogePlatonsmitihrenjeeigenenAsymmetrien,
WendepunktenundAporienalsaußerordentlichfruchtbar.ImFokusderAnalysen
stand nicht die rhetorische Persuasion, sondern die Herstellung von Verunsi-
cherung, die als ein ‚inversives‘ Verfahren das Gegenüber auf einen Positions-
wechselvorbereitet.
Die Projektarbeit profitierte insbesondere auch von dem interdisziplinären
Austausch,derinWorkshopshergestelltwurdeundderseinenHöhepunktineiner
KonferenzanderFreienUniversitätBerlin(imJuli2012)fand.AusdieserTagung
sind auch die meisten Beiträge des vorliegenden Bandes hervorgegangen; sie
werdenergänztdurchkomplettierendeUntersuchungen.SospanntsicheinBogen
vonder‚Rhetorik‘hinzueiner‚PoetikderIrritationundVerunsicherung‘,inder
die persuasionsorientierte Komponente zugunsten ästhetischer Verfahren und
Kategorien zurücktritt. Erprobt werden die oben skizzierten Fragestellungen an
einem Spektrum literarischer Gattungen und alltagssprachlicher Textsorten,die
unter rhetorischen und literaturwissenschaftlichen, aber auch unter pädagogi-
schen und linguistischen Fragestellungen interpretiert und durch die Fokussie-
rung auf Verunsicherung und Irritation neu gelesen werden. Ziel ist es, den
Stellenwert der Verunsicherung durch exemplarische Textinterpretationen in-
nerhalb eines spezifischen Werks oder auch nur innerhalb einer Gesprächsse-
quenzzubestimmenundinsbesondereauchdieVielzahlder(rhetorischen, ap-
pellativen, dialogischen) Mittel aufzuzeigen, durch die ein Orator bzw. Autor
bestehendeKonzeptualisierungsmusterseinesGegenübersdurchüberraschende,
verändertePerspektiveninZweifelziehenkann.
EintheoretischesFundamentbietetderBeitragvonJoachim KnapezurVer-
ortung der Verunsicherung im rhetorischen Persuasionsprozess. Ebenfalls rhe-
torischorientiertsinddieBeiträgevonThereseFuhrerundRamonaFrüh,diesich
am Beispiel der Predigt und des philosophischen Briefs rhetorischen Textgat-
tungen widmen, die allerdings – im Gegensatz etwa zur Rede – nicht auf ein
kurzfristiges kommunikatives Ziel ausgerichtet sind, sondern auf einen länger-
fristigen Einstellungswechsel ihrer Adressaten zielen. Michael Erler, Marcel Hu-
marundIngwerPaulbeschäftigensichausverschiedenenBlickwinkelnmitder
verunsicherndenWirkungdesPlatonischenSokratesaufseineGesprächspartner.
WährendMichaelErlervorallemnachdenFolgeneinerVerunsicherungsrhetorik
fragt,richtetMarcelHumardenBlickaufdiejenigenrhetorischenStrategien,die
das Potenzial haben,Verunsicherung überhaupt erst zu erzeugen. Aus der Per-
spektivederzeitgenössischenPädagogikfragtIngwerPaulnachderAktualitätder
Sokratischen Methode für das moderne Unterrichtsgespräch und weist der Ver-
unsicherungauchindiesemKontexteinenOrtzu.DerBeitragvonStephanPeters,
4 Einleitung
MonikaSchwarz-Frieselund Sally Zielske profiliertdie kognitionslinguistischen
undemotionspsychologischenVoraussetzungenderVerunsicherungamBeispiel
der Polit-Talkshows und belegt so die lebensweltliche Verortung der Verunsi-
cherung.DenÜbergangvonderRhetorikzurPoetikderVerunsicherungmarkieren
die Untersuchungen von Boris Dunsch, David Himpel, Martin Hose und Martin
Vöhler.WährendBorisDunschundDavidHimpelausrhetorischerPerspektiveam
BeispielderrömischenKomödieundTragödiezeigen,dassauchininszenierten
rhetorischen Kommunikationssituationen Verunsicherungsstrategien einen ho-
henStellenwerteinnehmen,undderenWirkungsweisevorallemauftextinterner
Ebeneuntersuchen,fragenMartinHoseundMartinVöhlernacheinerPoetikder
Verunsicherung und sehen Verunsicherung nicht nur als textimmanentes Phä-
nomen an, sondern nehmen auch die Wirkung auf die Zuschauer in den Blick.
Renate Schlesier untersucht abschließend am Beispiel eines Sappho-Fragments
lyrische Formen des irritierenden Spielsvon Versicherungund Verunsicherung.
FürdieErstellungderIndicesdankenwirSebastianWittkopfundVerenaRuf.
AngelikaHermannundSerenaPirrottadankenwirfürdiekompetenteBetreuung
derPublikation.
München,BerlinundNicosiaimJanuar2015
RamonaFrüh,ThereseFuhrer,MarcelHumarundMartinVöhler
Literaturverzeichnis
Buddemeier(1973):HeinzBuddemeier,KommunikationalsVerständigungshandlung.
SprachtheoretischeAnsätzezueinerTheoriederKommunikation,Frankfurta.M.
Kierkegaard(1976):SørenKierkegaard,ÜberdenBegriffderIronie.MitständigerRücksichtauf
Sokrates[1841],übersetztvonEmanuelHirsch,Frankfurta.M.
Knape(2003):JoachimKnape,„Persuasion“,HWRh6,874–907.
Ortak(2004):NuriOrtak,Persuasion.ZurtextlinguistischenBeschreibungeinesdialogischen
Strategiemusters,Tübingen.
Simonis(2011):LindaSimonis,„Irritation–JeandelaFontaineundJeanCrotti“,in:Niels
Werber(Hg.),SystemtheoretischeLiteraturwissenschaft.Begriffe–Methoden–
Anwendungen,Berlinu.a.,195–204.