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Idealismus und Naturalismus
in der gotischen Skulptur
und Malerei
Von
Max Dvoräk
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München und Berlin 1918
Druck und Verlag von R. Oldenbourg
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I.
Einleitung.
Das immer tiefere Eindringen in das politische, recht-
liche, wirtschaftliche, religiöse Leben des Mittelalters gehört
ohne Zweifel zu den großen Ruhmestiteln der neueren und
neuesten Geschichtsforschung. Nach einem Worte Belows
war die Geschichtschreibung nie so objektiv wie heute, wor-
unter nicht nur die bis zur größtmöglichen Gewißheit er-
hobene Quellenkritik zu verstehen ist. Die Vielseitigkeit
der Anschauung und das Vermögen, auch längst entschwun-
dene und ihrem Wesen nach fremdartige Perioden unserem
Verständnis näher zu bringen, war nie früher so groß, und
nirgends kann man diesen Fortschritt, der in ununter-
brochener Wechselwirkung aus der Ausbreitung und Ver-
tiefung der historischen Studien und aus dem wachsenden
Reichtum unseres Kulturbewußtseins entstanden ist, deut-
licher beobachten als in der Behandlung der Geschichte des
Mittelalters.
Das gilt aber durchaus nicht auch für die Geschichte
der mittelalterlichen Kunst. Wohl ist die neue Literatur
über die Kunst des Mittelalters groß, wenn auch lange
nicht so groß wie über die Kunst der Antike oder der
Renaissance. Es fehlt auch nicht an einer Fülle von neuen
Tatsachen, die auf allen Gebieten der mittelalterlichen
Kunstübung erforscht wurden und durch die für einzelne
dieser Gebiete in vorbildlicher Weise — man braucht nur
auf Dehios monumentales Werk über die kirchliche Archi-
tektur des Mittelalters hinzuweisen — eine bleibende Grund-
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läge für jede spätere wissenschaftliche Behandlung des Stoffes
geschaffen wurde.
Doch es dürfte einem aufmerksamen Beobachter kaum
entgehen, daß mit der Feststellung der Tatsachen ihre Deu-
tung keinesfalls gleichen Schritt gehalten hat.
Besonders auffallend ist es in der Beurteilung der
Werke der mittelalterlichen Plastik und Malerei. In der
Erforschung ihrer äußeren Entstehungsgeschichte, in der
Beobachtung der zeitlichen und lokalen Zusammenhänge,
in der Sonderung und gegenseitigen Abgrenzung der Schu-
len, in ikonographischen Fragen, in der kritischen Behand-
lung der Denkmäler ist viel und Treffliches geleistet worden;
in der kunstgeschichtlichen Erklärung des allgemeinen künst-
lerischen Faktums, das sie einzeln und in ihrer Gesamtheit
verkörpern, dagegen nur wenig und kaum etwas, was auch
heute noch befriedigen könnte.
Der bewunderungswürdige, großartige Versuch Schnaases,
die mittelalterliche Kunst als Ganzes aus ihren „äußeren
und inneren Motiven“ abzuleiten, ist fast fünfzig Jahre alt
und beruht zumeist auf Voraussetzungen, die als überholt
und unhaltbar angesehen werden müssen. Wie wenig haben
wir uns aber seitdem bei aller genaueren Kenntnis der
Überlieferung dem künstlerischen Sinn der mittelalterlichen
Skulpturen oder Gemälde historisch genähert und gelernt,
sie in ihrer Eigenart als Zeugnisse der künstlerischen Be-
strebungen zu verstehen, die dem Mittelalter eigen-
tümlich waren und objektiv nicht minder wichtig und be-
achtenswert sind, auf die spätere Entwicklung der Kunst
nicht minder eingewirkt haben als die der klassischen An-
tike oder der italienischen Renaissance. Innere große und
schöpferische Kraft wird zumeist nur der mittelalterlichen
Baukunst zugesprochen, die Werke der darstellenden Kunst
läßt man daran in geringem Maße und nur mittelbar teil-
nehmen1): sie werden mit wenigen Ausnahmen (von denen
wir noch sprechen werden) bewußt oder unbewußt, wo-
gegen sich bereits Schnaase gewendet hat, mehr oder weniger
als „nur historische Dokumente“ und „Zeugnisse primitiver
Vgl. Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. München 1914, S. 6.
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Entwicklungsstufen“, als relative Werte einer Übergangszeit
behandelt und in den seltensten Fällen auf ihren' beson-
deren mittelalterlich künstlerischen Inhalt hin untersucht.
Bemüht man sich jedoch, den künstlerischen Vorzügen
mittelalterlicher Bildwerke oder Malereien gerecht zu werden,
so klingen die Worte vielfach hohl, wie konventionelle
Höflichkeitsformeln: Es verbinden sich mit ihnen Wert-
vorstellungen, die willkürlich auf das Mittelalter übertragen
wurden. Das beeinflußt natürlich auch das Gesamtbild der
mittelalterlichen Kunst, das dadurch schwankend und merk-
würdig leblos wird, ein Reich nebelhafter, chaotischer Däm-
merung, aus der sich einzelne Gipfelpunkte des künstleri-
schen Schaffens, die großen Dome, die Statuen von Reims,
von Naumburg, die Glasgemälde von Chartres zu einer
starken, doch mehr unbestimmt empfundenen als klar um-
schriebenen Wirkung und Bedeutung loslösen, während die
Mehrzahl der Denkmäler als eine indifferente Masse er-
scheint, an die sich antiquarische Fragen, vage Stilvorstel-
lungen oder moderne Gefühlsassoziationen knüpfen, der es
jedoch fast durchwegs an jener historischen und künstleri-
schen Verlebendigung fehlt, die z. B. auch das geringste
Werk der griechischen Kunst als die notwendige Frucht
einer bestimmten geschlossenen und eigenwertigen, geistigen
und künstlerischen Entwicklung erkennen läßt.
Die Ursachen dieses Sachverhaltes werden uns klar,
wenn wir uns vergegenwärtigen, wie der Maßstab beschaffen
ist, nach dem die künstlerische Bedeutung einer mittelalter-
lichen plastischen oder malerischen Schöpfung in der Regel
beurteilt wird. Abgesehen von inhaltlichen Gesichtspunkten,
wird sie vor allem daraufhin untersucht, ob sie noch antik
ist oder schon naturtreu, wobei unter Naturtreue beiläufig
jene Anforderungen an gegenständliche Objektivität der
Schilderung und Formenwiedergabe verstanden werden, die
sich in der Kunst des 15. und des beginnenden 16. Jahr-
hunderts ausgebildet haben und seitdem in der allgemeinen
Vorstellung die unterste Grenze dessen geblieben sind, was
von einer sachlich treuen und naturwahren Darstellung ge-
fordert werden kann. Man beurteilt mit anderen Worten
die mittelalterliche Malerei und Skulptur nach Gesithts-
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punkten einer weit zurückliegenden Vergangenheit oder einer
viel späteren Entwicklung und vergißt, daß dazwischen
Jahrhunderte lagen, die eine Welt für sich bedeuten. Im
Grunde genommen ist es der Standpunkt der italienischen
Kunsttheoretiker der Renaissance und Barockzeit, der da
noch immer eine Rolle spielt, die Lehre vom Verfall und
Erneuerung der Kunst, die aus der künstlerischen Verurtei-
lung der Gotik im Quattrocento hervorgegangen, die ge-
fühlsmäßige und historische Entdeckung der mittelalterlichen
Kunst im vorigen Jahrhundert überlebte und nur neue
wissenschaftliche Formen angenommen hat.
Es war und ist sicher fruchtbar, dem Nachleben der
Antike im Mittelalter und den in verschiedenen Zeiten und
Gebieten einsetzenden Renaissancebewegungen, byzantini-
schen und anderen Einflüssen nachzugehen, wie ja auch
Untersuchungen über die mittelalterlichen Vorstufen einer
objektiv überprüfbaren Naturtreue ähnlich interessant und
wichtig sein können wie etwa Studien über den Besitz des
Mittelalters an positiven naturwissenschaftlichen Kennt-
nissen. Man darf nur nicht glauben, daß Untersuchungen
dieser Art uns irgendwie erschöpfend über „Rückschritt“
und „Fortschritt“ in der mittelalterlichen Kunst, über ihre
allgemeine kunstgeschichtliche Stellung, über ihr Wesen und
ihre Ziele belehren können. Nicht als ob, wie im paradoxen
Widerspruche zur allgemein geübten Methode vor einiger
Zeit behauptet wurde, die naturalistischen Errungenschaften
der mittelalterlichen Kunst als irrelevant für die ihr zu-
grundeliegenden künstlerischen Absichten anzusehen wären;
sie waren jedoch so vielfach und mannigfaltig mit spezifisch
mittelalterlichen Voraussetzungen und Problemen verknüpft,
daß sie davon getrennt, weder ein befriedigendes Bild von
dem nach einer anderen Richtung hin gewendeten gewaltigen
Wollen und Vermögen der mittelalterlichen Künstler bieten,
noch selbst richtig verstanden werden können. Und ähn-
lich wie mit Naturtreue verhält es sich auch mit einzelnen
kompositionellen Merkmalen, die wir unter dem Einflüsse
der klassischen Kunst und der von der Renaissance aus-
gehenden Kunstströmungen gewohnt sind, als untrennbar
mit dem Begriffe einer jeden „nicht mehr primitiven“ bild-
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liehen Gestaltung verbunden zu betrachten, denen aber
durchaus nicht immer und überall dieser Rang beigemessen
wurde. In vielfacher Beziehung ist mittelalterliche Plastik
und Malerei mit der antiken oder neuzeitigen einfach in-
komparabel, beiläufig wie die Kreuzzüge mit antiker oder
moderner Kolonialpolitik nicht verglichen werden können.
Bringt man sie in Beziehung zueinander, so kann man wohl
nicht schwer nachweisen, daß die Antike ihr offizielles Ende
überlebt und die Renaissance vor ihrem offiziellen Anfang
begonnen hat, doch an dem, was nur der mittelalterlichen
darstellenden Kunst eigentümlich war, worin ihr Eigenwert
und die grundsätzlich neue Wendung bestand, die sie dem
plastischen und malerischen Schaffen gab, geht man dabei
vorbei.
Dies soll natürlich nicht besagen, daß man sich nie
mit den spezifisch mittelalterlichen künstlerischen Quali-
täten etwa der romanischen oder gotischen Skulpturen und
Gemälde beschäftigte. Sie wurden wiederholt hervorgehoben
und untersucht an einzelnen Denkmälern, Schulen oder
Perioden. Doch gerade die darin herrschende Unsicherheit,
die zwischen subjektiver Emphase und zusammenhanglosen
Beobachtungen schwankt, beweist deutlich, wie sehr es an
festen Grundlagen und historisch geklärten Gesichtspunkten
fehlt. Das beginnt man auch einzusehen und immer mehr
macht sich das Bedürfnis geltend, diese Unsicherheit durch
ein vertieftes Verständnis für die der mittelalterlichen Kunst
zugrundeliegenden und ihr eigentümlichen künstlerischen
Werte, wie auch durch eine einheitliche und lebendige Auf-
fassung ihres Gesamtcharakters zu überwinden, — wie sie
bis zu einem gewissen Grade die romantische Periode be-
sessen hat. Nur war diese romantische Auffassung phan-
tastisch und einseitig auf geistigen Gegenwartsströmungen
aufgebaut und mußte, als künstlerischer Naturalismus und
historischer Kritizismus auch im Verhalten zur alten Kunst
die Führung übernahm, allmählich zerfallen, ohne daß sie
in der Folgezeit durch eine andere ersetzt worden wäre.
Wie rasch aber, wie stark sich in den letzten Jahren die
Erkenntnis dieses Mangels und des Unzulänglichen der
älteren Anschauung verbreitet hat, bezeugt die günstige
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Aufnahme des Versuches Worringers, mit einem Schlage
den Schleier zu lüften, hinter dem der künstlerische Kern
der mittelalterlichen Kunst bisher für den modernen Be-
schauer verborgen war.1) Ohne Rücksicht auf den jewei-
ligen historischen Tatbestand und in willkürlicher Be-
schränkung auf einen allerdings sehr charakteristischen Zug
der mittelalterlichen Kunst legte Worringer seinen glän-
zend geschriebenen Betrachtungen einen völkerpsychologisch
konstruierten Begriff des gotischen Formwillens zugrunde,
der alles, was die neuen nordischen Völker aus eigener Kraft
künstlerisch erfunden haben, vom altorientalischen und klas-
sischen Kunstschaffen unterscheidet, so daß die Gotik als
ein latentes oder offenkundiges Merkmal ihrer ganzen künst-
lerischen Entwicklung bis zu dem Zeitpunkte, wo sie durch
den Einfluß der italienischen Renaissance unterbrochen
wurde und in späterer Zeit wieder in dem Maße, als sie
sich von diesem Einflüsse emanzipierte, angesehen werden
kann. So blendend auch Worringers Beweis auf den ersten
Blick erscheinen mag, so verwandelt sich doch bei näherer
Betrachtung sein Ausgangspunkt, eine a priori existierende,
der Wirklichkeit und daher auch jedem Naturalismus feind-
lich gegenüberstehende ,»gotische“ Konzentration der Kunst
der neuen Völker auf Momente der übersinnlichen Ausdrucks-
steigerung in eine willkürliche Konstruktion, die manche
wichtige Phänomene der mittelalterlichen Kunst unserem
Verständnisse näherbringen kann, doch dem komplizierten
historischen Sachverhalte gegenüber noch phantastischer ist
als die abstrakten Stilbegriffe der Romantiker. Einen frucht-
bareren Weg haben einige Einzeluntersuchungen auf dem
Gebiete der altchristlichen und mittelalterlichen Baukunst
und Skulptur eingeschlagen, auf die ich später zurückkom-
men möchte, die aber auch kaum mehr als vereinzelte An-
sätze zu einer von den geläufigen und unhaltbaren Vor-
stellungen unabhängigen Auffassung der künstlerischen Be-
deutung der mittelalterlichen Plastik und Malerei enthalten.
Daß wir so schwer ein engeres Verhältnis zu dem finden,
was Bildwerke und Malereien dem Mittelalter künstlerisch
*) W. Worringer, Formprobleme der Gotik. München 1911.