Humana conditio. Beobachtungen zur Entwicklung der Menschheit am 40. Jahrestag eines Kriegsendes (8. Mai 1985)

164 Pages·1985·25.04 MB·German

by  Norbert Elias

Norbert Elias
Humana
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Jahrestageines
40.
Kriegsendes
(8.Mail985)
suhrkamp
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es 1384
edition suhrkamp
Neue Folge Band 384
»In einem Zeitalter, in dem die Entwicklung derWaffentechnik und
darüber hinaus derTechnik überhaupt Menschen Machtmittel in die
Handgegebenhat, mitdenensiegroßeTeilederMenschheitzerstören
können, wird es nötig, dieüberkommenen Formendes Zusammenle-
bens, und besondersauchdieStandardedesVerhaltens, aufallenEbe-
nen einer Prüfung zu unterziehen. Man könnte wohl sagen, daß der
AufstiegzueinembisherunerreichtenNiveauderGefahren, dieMen-
schen in ihren Überlebenseinheiten, also vor allem in Staaten, fürein-
anderbedeuten,denÜbergangzueinerneuenÄradarstellt.Wirstehen
vor der Wahl zwischen der weitgehenden Selbstzerstörung der
Menschheit und der Abschaffung der Haltungen, die zu Kriegen als
Mitteln der Lösung zwischenstaatlicher Konflikte führen. Die zweite
Alternative verlangt eine weitere Zivilisierung. Sie verlangt insbeson-
dere eine größere Mäßigung als je zuvor in der Handhabung sozialer
Konflikte von selten aller Beteiligten.«
Norbert Elias, 1897 in Breslau geboren, 1933 emigriert (Paris/Eng-
land), lebt heute in Amsterdam.
VonseinenPublikationenliegenimSuhrkampVerlagbereitsvor:Über
den ProzeßderZivilisation. 2 Bände(stw 158 und 1^9);Die höfische
Gesellschaft(stw42});Engagementi4?idDistanzierung; ÜberdieZeit;
Über die Einsamkeit der Sterbenden (BS 772). - Ferner: Norbert
Elias/WolfLepenies,ZweiRedenanläßlichderVerleihungdesTheodor
W. Adorno-Preises (es954); sowie zwei Materialienbände zu Norbert
Elias' Zivilisationstheone (stw 233 und stw 418).
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Norbert Elias
Humana
conditio
Beobachtungen zur Entwicklung
der Menschheit
h am 40. Jahrestag eines Kriegsendes
Mai
(8. 1985)
Suhrkamp
editionsuhrkamp 1384
NeueFolgeBand384
ErsteAuflage 1985
©SuhrkampVerlagFrankfurtamMain 1985
Erstausgabe
AlleRechtevorbehalten,insbesonderedasderÜbersetzung,
desöffentlichenVortrags
sowiederÜbertragungdurchRundfunkundFernsehen,
aucheinzelnerTeile.
Satz:Hummer,Waldbiittelbrunn
Druck:EbnerUlm
Umschlagentwurf:WillyFleckhaus
PrintedinGermany
I 2 3 4 5 6 - 90 89 88 87 86 85
Für Michael Schröter,
dessen Freundschaft diese Ausgabe
ermöglicht hat

I"'
Manchmal ist es nützlich, um die Tagesfragen besser
zuverstehen, sichinGedankenganzvonihnenzuentfer-
nen und dann gleichsam aus der Distanz langsam wie-
der zu ihnen zurückzukehren. Man versteht sie dann
besser. Denn wernur in dieTagesfragen vertieftist, wer
niemals über sie hinaussieht, ist praktisch betrachtet
blind.
Dies ist ein Tag, an dem wir den Frieden feiern, den
Frieden nach dem Ende eines schrecklichen Krieges. Er
ist so auch der eigentliche Geburtstag der neuen deut-
schen Bundesrepublik, den wir gleichzeitig mit diesem
Tag des Friedens feiern. Wir feiern also eine vierzigjäh-
rige Friedenszeit - wir, die Völker Europas. Andere
Völker der Erde sind weniger glücklich. Dort hören die
Kriege und die Revolutionen, die zwischenstaatlichen
und die innerstaatlichen Gewalttätigkeiten der Men-
'•' DieseskleineBuchentstandbeiderArbeitaneinemVortragüberdas
gleicheThema, denichaufEinladungderUniversitätBielefelddort
am8.Mai 1985 hielt. EineTonbandnachschriftdestatsächlichenVor-
tragssollinNr. 2derBielefelderUniversitätsgesprächeveröffentlicht
werden.
Ich bin Rudolf Knijff zu besonderem Dank verpflichtet für seine
HilfebeidieserArbeit.AuchGottfriedHermelinkhatmirvielgehol-
fen, und ich bin ihm dankbar dafür.
DerBanderscheintimRahmeneinesvonderFritz-Thyssen-Stiftung
geförderten Editionsprojekts (Gesamtleitung: Hermann Körte,
Ruhr-UniversitätBochum),derichandieserStellegleichfallsmeinen
Dank aussprechen möchte.
sehen nicht auf. Wir können uns glückHch schätzen, in
einer Gegend der Erde zu leben, in der es vierzig Jahre
langkeinen Krieg gegeben hat. Aberwas füreineWeltist
das, in der man sich beglückwünschen kann, wenn man
einmal vierzig Jahre lang, weniger als ein halbes Jahr-
hundert, von derBedrohung undderWutdes gegenseiti-
gen Mordens derMenschen, daswirKriegnennen, nicht
direkt betroffen wurde, und in der man überdies ständig
gewärtig sein muß, daß der nächste, noch schrecklichere
Krieg über einen hereinbricht? Was für Menschen sind
das, diesichgegenseitigimmervonneuemmitKrieg, mit
Mord und Totschlag bedrohen?
Humana conditio, das Los der Menschen. Ich habe
dies als Richtpunkt für das, was ich hier zu sagen habe,
unter anderem deswegen gewählt, weil die gewalttätigen
Auseinandersetzungen zwischen Menschen, die wir
Kriege nennen, soweit wir zurückschauen können, zum
Schicksal, zu den Lebensbedingungen derMenschen ge-
hören. Menschengeschaffenes Leid, menschengeschaf-
fene Greuel. Und doch kommen und gehen die Kriege
bisher wie Sturmfluten und Gewitter, unbeherrschbar
für Menschen. Welche Besonderheiten auch immer den
Hitler-Kriegvon allen anderen unterscheiden, man kann
dem menschheitlichen Problem, um das es hier geht,
nicht ganz gerecht werden, wenn man den Blick aufdie-
sen letzten europäischen Krieg oder auf den möglichen
nächsten Weltkrieg gebannt hält, wenn man nicht fragt:
Warum überhaupt Krieg?
Das gegenseitige Morden der Völker ist von Menschen
zu einer stehenden Institution erhoben worden. Kriege
gehören zu einer festen Tradition der Menschheit. Sie
sind in deren gesellschaftlichen Einrichtungen wie im ge-