Table Of ContentMit einer Studie von Günter Caspar
»Der Gänsemord von Tütz«, »Eine schlimme Nacht«, »Zweikampf
Vorlage dieses E-Books: im Weizen«, »Essen und Fraß« – das sind Titel von Geschichten,
in denen Hans Fallada erzählt, was er, Rudolf Ditzen, zwischen
Hans Fallada 1915 und 1925 kleiner Inspektor auf großen Gütern, so oder
Gute Krüseliner ähnlich mitgemacht oder mit angesehen hat. Er schöpft wie in
Wiese rechts den Romanen so auch in der kurzen Prosa seine Stoffe – ohne
und 55 andere je das Erfundene hintanzustellen – vornehmlich aus Erlebtem
Geschichten und Erfahrenem. Von der Zeit, da er Ende der zwanziger Jahre
in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Neumünster einem
Herausgegeben von Pro-vinzblättchen Abonnenten und Inserenten warb, zeugen
Günter Caspar Mit einer Geschichten wie »Ich bekomme Arbeit« und »Fünfzig Mark und
Studie »Hans Fallada, ein fröhliches Weihnachtsfest«. Die große Krise der dreißiger
Geschichtenerzähler« Jahre, die ihn nicht ganz ungeschoren ließ, die kleinen Leute
ISBN 3-351-01901-7 aber schwer traf, spiegelt sich schon in Überschriften wie »Der
1. Auflage 1991 Pleitekomplex« oder »Fröhlichkeit und Traurigkeit« oder »Der
Aufbau-Verlag Berlin Bettler, der Glück bringt«. Und wenn er, nun ein bekannter
und Weimar Schriftsteller, auf dem eigenen Anwesen in Carwitz bei Feldberg
Einbandgestaltung wirtschaftet und, in die Gestalt des Herrn Rogge schlüpfend,
Andreas Brexendorff über ein »Häusliches Zwischenspiel«, »Die verlorenen
Grünfinken« und den »Gestohlenen Weihnachtsbaum«
berichtet, plaudert er ebenfalls aus der Schule. Ja, selbst in
den Märchen, die er seinen Kindern erzählt, den »Geschichten
aus der Murkelei«, kommt er als der Vater vor, und in der vom
verkehrten Tag tritt nebenbei die ganze Familie auf.
Autobiographisch im Wortsinn sind diese Geschichten
nicht. Doch in viele Arbeiten gehen das Erleben, die
Lebenserfahrungen des Autors so fest ein, daß man sich beim
Lesen, nebenher, von ihm ein Bild machen kann. Fast immer
waren sie zweckbestimmt : Da mußte Geld verdient oder
einem Auftrag nachgekommen werden, und manches Mal
ruhte Fallada beim Schreiben einer kurzen Erzählung von den
Anstrengungen eines dicken Romans aus.
Daß es Fallada gelungen sei, in seinen besten Romanen »die
Diskrepanz zwischen Kunst und Unterhaltung aufzuheben«,
konstatierte Johannes R. Becher 1947 in seinem Essay und
Nekrolog »Was nun ?« : »Man unterhält sich bei seiner Art der
Darstellung, die Lektüre bietet Kunstgenuß.« Und Becher fügte
hinzu : »Keines seiner Bücher starb an Langeweile.« In dieses Urteil
kann man den vorliegenden Band getrost einbeziehen. Unsere
Auswahl enthält alles in allem sechsundfünfzig Geschichten,
dazu gehören auch die Märchen aus »Hoppelpoppel – wo bist
040506
du ?« und die »Geschichten aus der Murkelei«, die, für Kinder
Nicht zum Verkauf ! geschrieben und von Kindern viel gelesen, ebenso Eltern und
Ältere zu vergnügen vermögen. Eine Studie des Herausgebers
beschreibt Falladas Weg in die Literatur und die Gegebenheiten,
unter denen die kurze Prosa entstanden ist.
Hans Fallada
Gute Krüseliner Wiese rechts
und 55 andere Geschichten
Aufbau-Verlag
Inhalt
Geschichten und Geschichtchen 1925-1936
Der Trauring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Länge der Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Gauner-Geschichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .40
Bauernkäuze auf dem Finanzamt . . . . . . . . . . . . . 50
Kubsch und seine Parzelle . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Mutter lebt von ihrer Rente . . . . . . . . . . . . . . . . 58
Einbrecher träumt von der Zelle . . . . . . . . . . . . . . 61
Warum trägst du eine Nickeluhr ? . . . . . . . . . . . . . 64
Wie Herr Tiedemann einem das Mausen abgewöhnte. . .68
Der Gänsemord von Tütz . . . . . . . . . . . . . . . . . .77
Ein Mensch auf der Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Blanka, eine geraubte Prinzessin . . . . . . . . . . . . . 100
Ich bekomme Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Der Pleitekomplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Eine schlimme Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Die offene Tür . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Das Groß-Stankmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Fröhlichkeit und Traurigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Gegen jeden Sinn und Verstand . . . . . . . . . . . . . . 168
Frühling in Neuenhagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
Die Fliegenpriester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Mit Metermaß und Gießkanne . . . . . . . . . . . . . . 182
Der Bettler, der Glück bringt . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Wie vor dreißig Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Die geistesgegenwärtige Großmutter . . . . . . . . . . . 210
Zweikampf im Weizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
Schuller im Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
Fünfzig Mark und ein fröhliches Weihnachtsfest. . . . . 227
Christkind verkehrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Gute Krüseliner Wiese rechts . . . . . . . . . . . . . . . 251
Der gestohlene Weihnachtsbaum . . . . . . . . . . . . . 260
Das Wunder des Tollatsch . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Hoppelpoppel – wo bist du ? 1936
Lieber Hoppelpoppel – wo bist du ? . . . . . . . . . . . . 278
Lieschens Sieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Häusliches Zwischenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Gigi und Lumpi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Pfingstfahrt in der Waschbalje . . . . . . . . . . . . . . . 310
Die verlorenen Grünfinken . . . . . . . . . . . . . . . . 316
Lüttenweihnachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Geschichten aus der Murkelei 1938
Geschichte von der kleinen Geschichte . . . . . . . . . . 341
Geschichte vom Mäusecken Wackelohr . . . . . . . . . 345
Geschichte vom Unglückshuhn . . . . . . . . . . . . . . 356
Geschichte vom verkehrten Tag . . . . . . . . . . . . . . 371
Geschichte vom getreuen Igel . . . . . . . . . . . . . . . 378
Geschichte vom Nuschelpeter . . . . . . . . . . . . . . . 392
Geschichte vom Brüderchen . . . . . . . . . . . . . . . . 401
Geschichte vom goldenen Taler . . . . . . . . . . . . . . 412
Geschichte vom unheimlichen Besuch . . . . . . . . . . 440
Geschichte von der gebesserten Ratte . . . . . . . . . . . 457
Geschichte von der Murkelei . . . . . . . . . . . . . . . 478
Letzte Geschichten 1945/1946
Essen und Fraß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
Die gute Wiese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
Kalendergeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507
Der Heimkehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526
Der Ententeich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536
Alte Feuerstätten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
Günter Caspar : Hans Fallada, Geschichtenerzähler
Sein »einziges Ideal« (1910-1912) . . . . . . . . . . . . . 555
Erste Versuche (1912-1920) . . . . . . . . . . . . . . . . 567
Frühe Erzählungen (1920-1930) . . . . . . . . . . . . . . 580
Geschichten und Geschichtchen (1931/1932) . . . . . . 597
Kindergeschichten (1933-1938) . . . . . . . . . . . . . . 626
Bestellte Geschichten (1938-1943) . . . . . . . . . . . . 645
Letzte Geschichten (1944-1946) . . . . . . . . . . . . . . 672
Zur Auswahl. Zum Text . . . . . . . . . . . . . . . 699
Geschichten und Geschichtchen
1925–1936
Der Trauring
1
Die Leute gehen aufs Feld zum Kartoffelaushacken. Es ist später
Herbst, in der letzten Nacht hat es schon ein wenig gefroren. Nun
bei Sonnenaufgang blinkt überall Frühreif. Obwohl sie frieren,
gehen sie nur langsam, zuhinterst zottelt der Feldunterinspektor,
die Hände tief in die Taschen gebohrt.
Verdrossen lauscht er auf das Geschnatter der Weiber, er hat in
der letzten Nacht schlecht geschlafen, seine Schulden haben ihn
wach gehalten. Alles Grübeln aber hat nichts geholfen : Diese klei-
ne Summe, diese dreißig, vierzig Mark lassen sich nicht auftreiben,
es findet sich nun einmal kein Weg. Wenn er Hofinspektor wäre !
Man kann ganz gut einmal ein paar Zentner Roggen vom Boden
verschwinden lassen, ohne daß einer etwas davon merkt. Aber so
… verfluchtes Leben ! Er gähnt, dann spuckt er aus.
Die Kolonne ist auf dem Kartoffelschlag angelangt. Das Kraut
steht schwarzbraun und naß da, der Boden ist lehmig feucht.
Unterinspektor Wrede teilt jedem seine Dämme zu, natürlich
gibt es wieder Streit und Gezanke unter den Weibern, er küm-
mert sich nicht darum, er setzt sich auf die Wagendeichsel. Die
erste Hacke blinkt in der Sonne, auf dem Felde wird es stiller,
die Arbeit hat begonnen. Langsam kriechen die gebeugten
Gestalten am Boden hin.
7
Wrede will rauchen, aber er merkt, daß er seinen Tabakbeutel
vergessen hat. Eine dumpfe Wut regt sich in ihm gegen dieses
Leben, das so trostlos einförmig ist, dem man rettungslos ver-
fiel, eine Wut, die nach einem Ausweg sucht. Er stürzt hinter
die Leute. Wo er eine liegengebliebene Kartoffel sieht, erhebt
er ein großes Geschimpf, aber das hilft nichts, die Wut wächst
in ihm.
Er muß zurück zum Kastenwagen, die ersten Körbe werden
ausgeschüttet, er hat Marken zu verteilen. Er stellt sich auf die
Deichsel und paßt auf, daß die Körbe ordentlich voll sind. Er wird
der Bande schon zeigen, woher der Wind weht, keiner bekommt
eine Marke, der den Korb nicht randvoll hat. Sollen die etwa
vergnügt sein, wenn ihm speiübel ist ? Er spuckt auf alles.
Da kommt die Uteschen. Das ist auch so ein Aas : Die denkt,
weil sie jung verheiratet und hübsch ist, hat sie es nicht nötig.
Ein paarmal hat er ihr heimlich Kartoffelmarken zugesteckt,
aber sie soll nicht glauben, daß sie ihm deswegen auf der Nase
tanzen kann. Außerdem ist sie verliebt in ihren Kerl.
Aber es läßt sich nichts sagen, der Korb ist voll. Nachdenklich
sieht er den Knollen nach, die in den fast noch leeren Kasten pol-
tern, er sieht die Frau an, die hochgereckt, die schwere Kiepe weit
über dem Kopf, dasteht, und sein Auge bleibt auf der Hand haf-
ten, die, zwischen Kasten und Korbrand eingeklemmt, mit Erde
beschmutzt, eine für Landarbeiterinnen zierliche Form hat.
Da blinkt zwischen den rollenden Kartoffeln etwas auf. Wrede
macht eine Bewegung, will sprechen. Und steht wieder still.
Die Frau hebt den leeren Korb aus dem Wagen, er gibt ihr eine
Marke, sie geht.
Er steht wieder ganz still da, sein Gesicht ist seltsam heiß
geworden, die Stirn zog sich zusammen – denkt er sehr über
etwas nach ? Plötzlich tut er einen Schrei, springt wie ein Unsin-
niger in den Kasten, mit beiden Füßen zwischen die Kartoffeln
8
und brüllt : »Welches Aas schmeißt hier Steine zwischen die
Kartoffeln ?«
Er bückt sich, er wirft weit ins Feld hinein Knollen und Erde,
seine Hände suchen fieberhaft. Die Leute lachen untereinander,
halblaute Spottreden fliegen von einem zum andern : »Nun ist er
ja wohl ganz mall geworden.« – »Seine Marie hat gestern abend
nicht gewollt.« – »So ein Aas, das nichts kann wie Leute schika-
nieren, sollte man mit der Hacke vor den Schädel hauen.«
Wrede ist wieder aus dem Kasten gestiegen. Er schreit noch
einmal : »Wenn ich jemand erwische, der Steine zwischen die
Kartoffeln tut, jage ich ihn vom Felde, versteht ihr das !«
Aber dies zu rufen war schon schwer. Ihm ist sehr warm,
sein Herz scheint ganz voll zu sein. Er weiß gut, er muß den
Vormittag weiter schimpfen, denn er darf keinen Verdacht
erregen. Er muß schimpfen, obwohl er nun seine Schulden
bezahlen kann.
Er kann seine Schulden bezahlen !
2
Es ist Feierabend geworden. Martha Utesch steht in der Küche
und rührt ihren Schweinen warmen Schrotbrei an. Sie taucht
die Arme bis zu den Ellenbogen in das warme Gemenge, um
heil gebliebene Kartoffeln noch zu zerdrücken. Schmeichelnd
empfindet sie die sämige Glätte des Tranks auf der Haut. Ein
den Ring trägst, gehörst du mir. Hat ein andrer ihn, gehörst du
ihm. Ziehe ihn nie, auch nur im Spaß, vom Finger.« Er glaubt
daran. Es ist gut, daß ihn die Erde hat, vielleicht glaubte auch
ich daran.
Ihr Gesicht ist noch vertiefter geworden.
Ich muß mir einen andern machen lassen. Es wird schwer
9
sein. Schon mit dem Geld. Und dann, weil es kein Fabrikring
ist. Bis dahin …
Sie kommt in die Küche zurück. Nebenan stöhnt wieder der
Kurzhobel. Sie greift das Beil und schlägt Kleinholz. Der Kurz-
hobel wird still. Wilhelm fragt : »Haust du jetzt Holz ?«
»Alles ist naß«, sagt sie. »Dies Schlackerwetter.« Sie schlägt zu.
Wie ungeschickt ist Martha, denkt Utesch. So ungeschickt
ist Martha doch sonst nicht. Schon sieht er eine Hand, die sich
rötet, rötet. Alles ist Blut.
»Da habe ich mich gehauen«, sagt Martha, weiß geworden.
Sie betrachtet zweifelnd, mit zitternder Lippe die Hand, die nur
noch Blut ist.
Er macht einen Schritt zu ihr. »Warum haust du nach Feier-
abend Holz ? Kann ich das nicht tun ?«
»Laß ! Laß !« ruft sie und springt gegen die Kammer. »Ich
verbinde mich schon.«
Dann sitzen sie beim Abendessen. Wilhelm sieht immer auf
die weiß umwickelte Hand. »Mit dem Buddeln ist es nun vorbei.
Schade, wir hätten das Geld brauchen können.« Nach einer
Weile : »Und der Ring ? Hast du ihn abgetan ?«
Martha lacht. »Der sitzt ! Der geht nicht runter. Der bleibt. Fühle
mal !« Und sie führt seine Finger über den dicken Verband.
Das Ehepaar Utesch schlief. Frau Utesch wanderte durch die
Räume des Traums, geheimnisvoll geführt von einem, den sie
nicht sah, vor dem ihr doch angst war. Plötzlich war der Führer
verschwunden, sie fühlte ihn nicht mehr, allein stand sie in einer
purpurfarbenen Röte, und ihre Angst wuchs.
Plötzlich hörte sie eine Stimme schreien, wilde, ungefüge
Schreie in das Nichts rufen. Zuckend zog sich die Welt zu-
sammen. Gegen den Schein der Morgenröte blinkte die erste
Hacke, das Kartoffelkraut triefte naß, auf einem Wagen tobte
Wrede und schrie.
10