Genussrevolte: Von der Diät zu einer neuen Esskultur

121 Pages·2012·0.923 MB·German

by  Eva-Maria Endres (auth.)

Genussrevolte
Reviewed Research. Auf den Punkt gebracht.
VS College richtet sich an hervorragende NachwuchswissenschaftlerInnen.
Referierte Ergebnisse aus Forschungsprojekten oder Abschlussarbeiten werden
in konzentrierter Form der Fachwelt präsentiert. Zur Qualitätssicherung werden
externe Begutachtungsverfahren eingesetzt. Eine kompakte Darstellung auf 60 bis
maximal 120 Seiten ist dabei das Hauptkennzeichen der neuen Reihe.
Herausgegeben von
Professor Dr. Nikolaus Franke Professor Dr. Joachim Henkel
Universität Wien, Wien, Österreich Universität München, München,
Deutschland
Professor Dietmar Harhoff , Ph.D.
Universität München, München,
Deutschland
Eva-Maria Endres
Genussrevolte
Von der Diät zu einer neuen Esskultur
COLLEGE
Eva-Maria Endres
Berlin, Deutschland
ISBN 978-3-531-19626-8 ISBN 978-3-531-19627-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-531-19627-5
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Geleitwort

Genuss, die Fähigkeit Sinnesempfindungen positiv aufzunehmen und als einen
der Anlässe von Wohlbefinden in das Alltagsverhalten zu integrieren, fällt vielen
Menschen aus verschiedensten Gründen nicht notwendig leicht. Diese Beobach-
tung ist der Ausgangspunkt einer spannenden Suche nach dem verloren gegan-
genen Genuss und seiner Wiederentdeckung in der Gegenwart, auf die sich die
junge Ökotrophologin Eva-Maria Endres macht. Einer positiven Bewertung der
Sinneswahrnehmungen steht eine vor allem religiös besetzte Bewertung von
Sinnesfreuden entgegen, an deren erster Stelle Sexualität einerseits, Essen und
Trinken andererseits zu finden sind. Zwischen Schlaraffendasein und sündhaftem
Verhalten eingespannt findet sich im Verlauf der abendländischen Kulturge-
schichte seit den Anfängen des Christentums vor allem der Genuss, den Essen
und Trinken hervorrufen; das heißt ausgerechnet die menschliche Tätigkeit, mit
der wir vom ersten bis zum letzten Tag unseres Daseins zu tun haben.
Vor dem Höhenflug einer Verwissenschaftlichung der Ernährung, der mit
dem 19. Jahrhundert begann, waren es daher christlich rückgebundene Moralvor-
stellungen, die das Verhältnis des Menschen zu seiner Nahrung und damit auch
das Maß an Genuss, das er beim Essen und Trinken empfinden durfte, steuerten.
Heute folgen wir mehrheitlich wie Lemminge den immer schneller wechselnden
Empfehlungen einer physiologischen, technisierten Vorstellung von Nahrung
und deren Auswirkungen auf unseren Körper – wobei auch hierbei das Wohlbe-
finden und der Genuss größtenteils auf der Strecke bleiben und nicht wenige in
Gefahr sind, sich im Dickicht von jahreszeitlich und ortsunabhängigen Lebens-
mittelangebot und den Lobpreisungen der vielseitigen Tugenden vor allem in-
dustriell erzeugter Nahrungsmittel zu verlieren. Die amerikanische Food Journa-
listin Mary Frances Kennedy Fisher setzt genau an dieser Stelle an und suchte
ihre Leser, wenn schon nicht von der Bedeutung des Genusses für eine gelunge-
ne Lebensgestaltung zu überzeugen, so doch wenigstens zum Genuss zu verfüh-
ren: „Schauen sie, wenn sie ohnehin essen müssen, können sie es genauso gut
genießen.“
In der Slow Food Bewegung, die seit den späten 80er Jahren von Italien aus
weltweite Verbreitung findet, haben sich Menschen zusammengefunden, die sich
für den Genuss, ja mehr noch, das Recht auf Genuss von guten, sauberen und
fairen Lebensmitteln einsetzen. Für sie sind Essen und Trinken Genuss, Grund-
lage des menschlichen Lebens und untrennbar mit unserer Kulturgeschichte
6 Geleitwort

verbunden. Genuss beim Essen und Trinken reicht für Slow Food Anhänger aber
weit über das Private hinaus ins Politische. Voraussetzung für die geschmackli-
che Freude, die gute Lebensmittel bereiten, den Genuss beim Essen und Trinken,
ist die Qualität der Lebensmittel, die aus einer nachhaltigen, sauberen Erzeugung
und Weiterverarbeitung stammen, sowie Achtung und Erhaltung von Vielfalt:
der Vielfalt kulinarischer Traditionen, der Vielfalt von Geschmack auf dem Tel-
ler und der Vielfalt in der Natur und mit ihr der Vielfalt unserer Kulturpflanzen,
der Rassen und Kulturlandschaften. So verbinden sich bei Slow Food Genuss
und Verantwortung, auch soziale Verantwortung, denn der Genuss von qualitäts-
vollen Lebensmitteln darf nicht das Privileg bestimmter Gruppen und Gesell-
schaften sein.
Genuss beim Essen und Trinken kann und soll erlernt werden, damit man
überhaupt Qualität wieder erkennen kann, ein natürliches Produkt von einem
synthetischen wieder zu unterscheiden in der Lage ist, und man so einen Ausweg
aus dem Ernährungsdilemma der Gegenwart findet. Davon sind die Slow Food
Anhänger überzeugt und so manche Untersuchung zu Ernährungsverhalten gibt
ihnen Recht. Und dass solches Lebensmittellernen Not tut ist offensichtlich.
Noch nie war die Nachfrage nach Fastfood so groß wie heute. Der Markt-
führer unter den bekannten Ketten der Fastfood Anbieter verzeichnete in
Deutschland 2011 Rekordumsätze von 3 Milliarden Euro – und das mit einem
Standardmenu, Burger, Chips und ein halber Liter Cola, mit welchem sich der
Esser summa summarum beachtliche 1165 Kilokalorien zuführt und seinen Kör-
per mit nahezu der Hälfte des Tagesbrennstoffs versorgt. Adipositas und ihre
Folgen verursachen in Deutschland jährlich an die 13 Milliarden Euro Kosten für
das Gesundheitswesen. Ein Werbeverbot für Fastfood sowie die so attraktiv
bezeichnete ‚Fettsteuer‘ kursieren immer wieder als Instrumente, um das Ernäh-
rungsverhalten zu steuern.
Dabei wäre die Lösung des Problems eigentlich einfach: koche selber, ko-
che aus frischen Zutaten und genieße gute Lebensmittel. Wenn man sich im
besten Slow Food Sinne dafür interessiert, wo die Lebensmittel herkommen, und
eine Beziehung zu den Lebensmitteln herstellt, neugierig ist und Ernährungswis-
sen aufbaut, dann hat man eine gute Chance, dem in Verruf geratenen Genuss die
Achtung zu schenken, der ihm gebührt. Denn die Wiederentdeckung des maß-
vollen Genusses von guten Lebensmitteln ist nicht nur die beste Voraussetzung
von Gesundheit, sondern eben auch eben der schönste Urgrund von Wohlbefin-
den.
Dr. Ursula Hudson
amt. Vorsitzende Slow Food Deutschland e.V.
Inhalt

Geleitwort ............................................................................................................ 5
1. Einleitung ........................................................................................................ 9
2. Die Entstehung der Diätmoral oder die Vertreibung des Genusses ......... 11
2.1. Antike ...................................................................................................... 11
2.1.1. Hippokrates ..................................................................................... 11
2.1.2. Antike Philosophen ......................................................................... 15
2.1.3. Apicius und Lucullus ...................................................................... 19
2.1.4. Galen ............................................................................................... 23
2.1.5. Resümee .......................................................................................... 26
2.2. Mittelalter ................................................................................................ 27
2.2.1. Das Krankheitsbild .......................................................................... 27
2.2.2. Essen – wenn überhaupt, dann bitte nur symbolisch ....................... 29
2.2.3. Die Ambivalenz............................................................................... 31
2.2.4. Diätmoral bis zur Askese ................................................................ 32
2.2.5. Einflüsse auf die heutige Diätmoral ................................................ 35
2.3. Renaissance ............................................................................................. 37
2.3.1. Das Menschenbild ........................................................................... 37
2.3.2. Der Prozess der Zivilisation ............................................................ 38
2.3.3. Die Diätetik ..................................................................................... 40
2.4. Aufklärung und Industrialisierung .......................................................... 44
2.4.1. Das Aufkommen einer neuen Naturwissenschaft ............................ 44
2.4.2. Ordnung einer neuen Gesellschaft ................................................... 46
2.4.3. Gesundheitswesen und Diätetik ...................................................... 49
2.4.4. Esskultur als Mittel sozialer Distinktion ......................................... 51
2.5. Zur Gegenwart ........................................................................................ 56
2.5.1. Essverhalten .................................................................................... 56
2.5.2. Nahrungsmittelproduktion ............................................................... 58
2.6. Die Zukunft des Genusses ....................................................................... 62
8 Inhalt
2.6.1. Das gegenwärtig richtige Maß......................................................... 62
2.6.2. Das Zeitalter der Qualität ................................................................ 63
2.6.3. Die Neuentdeckung des Genusses ................................................... 64
2.6.4. Die Rolle von Slow Food ................................................................ 65
3. Slow Food ...................................................................................................... 67
3.1. Wie alles begann ..................................................................................... 67
3.2. Grundsätze .............................................................................................. 69
3.2.1. Manifest und Schwerpunkte ............................................................ 69
3.2.2. Slow Food und Fast Food ................................................................ 70
3.3. Slow Food heute...................................................................................... 71
3.3.1. Organisation .................................................................................... 71
3.3.2. Zentrale Projekte ............................................................................. 72
3.3.3. Finanzierung .................................................................................... 74
3.3.4. Das Slow Food Instrumentarium ..................................................... 76
3.4. Was bewirkt Slow Food? ........................................................................ 79
3.5. Ein neues Genussverständnis .................................................................. 83
4. Esskultur, Genuss und Gesundheit ............................................................. 86
4.1. Das französische Paradox ....................................................................... 86
4.1.1. Wein ................................................................................................ 87
4.1.2. Der mediterrane Lebensstil ............................................................. 93
4.2. Genuss und Gesundheit – eine Studie ..................................................... 98
4.2.1. Genuss als Forschungsdefizit .......................................................... 99
4.2.2. Methode ......................................................................................... 100
4.2.3. Zentrale Ergebnisse ....................................................................... 101
4.2.4. Resümee ........................................................................................ 109
5. Abschlussdiskussion ................................................................................... 110
Literatur .......................................................................................................... 114
Anhang ............................................................................................................. 120
1. Einleitung

Frau F. ist übergewichtig. Sie ist, wie ihr Hausarzt, der Meinung, dass sie ab-
nehmen muss. Auch wenn sie, abgesehen von ihrem BMI (Body Mass Index),
kerngesund ist. Vom Arzt bekommt sie einen Flyer zum Thema Gewichtsreduk-
tion, den sie aufmerksam liest und anschließend die Empfehlungen umsetzt: sie
informiert ihre Familie und reduziert den Süßigkeiten- und Fettkonsum. Nach
vier Wochen hat sie ein paar Kilo abgenommen. Sie ist motiviert, vermisst es
aber, sich mit ihren Freundinnen zum Kuchenessen zu treffen, am Abend vor
dem Fernseher ein Glas Rotwein zu trinken und die fettreduzierte Margarine
schmeckt ihr auch nicht. Sie geht dann zu einer Ernährungsberaterin, die ihr die
Ernährungspyramide vorlegt: Viel Obst und Gemüse solle sie essen, Vollkorn-
produkte und wenig Fleisch und Alkohol. Bei einem Heilpraktiker lässt sie sich
einige Wochen später von der Blutgruppendiät überzeugen. Sie hat Blutgruppe B
und verträgt Fleisch und Fisch besonders gut, Getreide und Hülsenfrüchte solle
sie lieber meiden. Der Bestseller über Trennkost, den sie von einer Freundin
geschenkt bekommt, verwirrt sie letztlich vollends. (Klotter 2012) Resigniert und
verunsichert, was für sie die beste Ernährung ist, gibt sie ihr Vorhaben abzuneh-
men auf. Unzufrieden mit ihrem Gewicht ist sie noch immer, eigentlich sogar
mehr als vorher.
Fragen, die dieses Fallbeispiel aufwerfen, sind: Warum sind so viele Exper-
ten vollkommen unterschiedlicher Meinung? Kann Frau F. beim Essen nicht auf
ihr eigenes Körpergefühl hören? Warum will sie überhaupt abnehmen? Warum
hat sie jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn sie ein Stück Kuchen isst?
Schließen sich Genuss und Gesundheit tatsächlich aus, oder kann Genuss auch
von Vorteil für die Gesundheit sein? Warum scheint ein normatives Regelwerk
die Gesundheit zu bestimmen und nicht Lebensqualität und Wohlbefinden?
Mit dem Begriff ‚gesunde Ernährung’ assoziieren die wenigsten Genuss.
Kocht man ein Gericht für seine Freunde und erhält dazu den Kommentar:
„Schmeckt gesund.“, ist das nicht gerade ein Kompliment. Genuss ist das, was
Spaß macht, aber nicht gesund ist. Vielleicht macht es auch gerade deshalb Spaß,
weil es nicht gesund ist. Auch wenn man in einen Kindergarten geht und die
Kinder nach gesunden Lebensmitteln fragt, unterscheiden sie klar zwischen
gesund und lecker. Genuss wird eher als Sünde definiert und Gesundheit als
Heil.
Eva-Maria Endres, Genussrevolte, DOI 10.1007/978-3-531-19627-5_1,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2012