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CONTRAPUNKT
VON
HEINRICH BELLERMANN.
MIT ZAHLREICHEN IN DEN TEXT GEDRUCKTEN NOTENBEISPIELEN UND FUNF
LITHOGRAPHIERTEN TAFELN IN FARBENDRUCK.
DRITTE AUFLAGE.
SPRINGER-VERLAG BERLIN HEIDELBERG GMBH
1887
ISBN 978-3-662-36199-3 ISBN 978-3-662-37029-2 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-662-37029-2
Softcover reprint ofthe hardcover 3rd edition 1887
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DEM ANDENKEN
ED U A R D G R E L L' s.
Vorwort.
EnuARD GRELL, der vor sechsundzwanzig J ahren die Widmung der
ersten Aufl.age vorliegenden Werkes, und 1876 die der zweiten mit
freundlichem Wohlwollen entgegennahm, ist am 10. August 1886 nach
einer reichgesegneten Thatigkeit in seinem sechsundacbtzigsten Lebens
jahre aus dieser Zeitlichkeit geschieden. Seinem Andenken sei in treuer
Dankbarkeit und Liebe auch fernerhin dieses Buch gewidmet!
Uber Zweck und Ziel der Lehre babe ich mich in den Vorworten
zu den beiden friiheren Aufl.agen wohl geniigend ausgesprochen. -
Was nun gegenwartige dritte Aufl.age betrifft, so ist sie in einzelnen
Abschnitten noch ein wenig erweitert worden, wie eine Vergleichung mit
der zweiten leicht zeigen wird. Namentlich babe ich mich bemiiht im
dreistimmigen Satze, wenn neben dem Cantus firmus eine zweite Stimme
Viertelnoten und eine dritte syncopierte gauze Noten singt, die Regeln
genauer und klarer als friiher zu geben, da bier die Schiller oft in
Zweifel sind, mit welchen Intervallen sie die gebundenen Dissonanzen
begleiten sollen. In dem Capitel von der Fuge babe ich als Beispiel
noch eine vierstimmige Fuge in Dur, (ionisch,) die bisher fehlte, hin
zugefligt und auch an einigen anderen Stellen, so weit es der Raum
gestattete, die Beispiele zu vermehren gesucht.
Berlin, im August 1887.
H. B.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Die erste Aufl.age gegenwartigen Buches erschien v.or funfzehn J ahren.
So lang dieser Zeitraum auch ist, so kann der Verfasser dennoch mit
dem Erfolge seiner Arbeit zufrieden sein~ denn die Grundsatze, die er
in der Kunst vertritt, finden heutzutage nur in engeren Kreisen voile
Zustimmung. Wenn also dennoch eine zweite Ati.flage notig :wurde,
so ist das ein unverkennbares Zeichen, dass diese Kreise an Umfang
nicht abgenommen haben. Uber die Grundsatze aber, welche ihn bei
der Abfassung seines Lehrbuches geleitet haben und die in demselben
weiter ausgefiihrt sind, mogen die folgenden wenigen W orte an dieser
Stelle genugen.
Gesang ist rhythmisch und harmonisch geregelte Sprache: oder
mit anderen Worten, das sonst ohne genaue Abmessung von lang
und kurz, von hoch und tief blos gesprochene Wort bewegt sich durch
die Musik in rhythmischen und harmonischen Verhaltnissen. Diese
V erhaltnisse, die in der Instrumental-Musik durch anfsere Hiilfsmittel
erzeugt werden, stellt der Mensch im Gesange durch seinen eigenen
Korper, d. h. durch seine eigene Stimme dar. Geht hieraus hervor,
dass der Gesang die Grundlage, wie der U rsprung aller Musik ist,
so ist zugleich dadurch auch (lie natiirliche Grenze fiir jene Verhalt~
nisse gezogen. Tonverbindungen, welche das Ohr des Mensch en nicht
mit Sicherheit auffassen kann, wird er nimmermehr mit seiner Stimme
genau wiedergeben konnen. Etwas ahnliches findet auch bei der Dar
stellung von rhythmischen Verhaltnissen statt.
Das Studium der Musik hat demnach unbedingt mit dem Gesange
zu beginnen. Die einfachsten und naturlichsten Verhaltnisse der Kunst
mussen zuvorderst grundlich kennen gelernt und nach allen Seiten hin
durchforscht werden. Auf harmonischem Gebiete, welches wir hier
besonders ins Auge fassen wollen, geschieht dies durch das Studium
der diatonischen Tonleiter, die nicht allein in unserm Dur und Moll,
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sondern aU:ch in, den verschiedenen Octavengattungen (Kirchentonen
und was mit diesen zusammenhangt) ihre reichen Formen hat.
An jene Zeiten, in denen sich die Musik in den strengen Grenzen
reiner Diatonik bewegte, ist daher unter allen Umstanden das ·S tudium
der harmonischen Verhaltnisse anzukniipfen, wenn nicht von vornherein
bei dem Lernenden falsche und verkehrte Ansichten und Vorstellungen
Platz greifen sollen. Hierbei muss derselbe angehalten werden, alle
seine eigenen Compositionsversuche leicht sangbar zu schreiben. Es
ist daher- von dem a1iergrofsten Nntzen fiir ihn, wenn er seine Melo
dien selbst singt, und - so weit es Ort und Zeit gestatten - seine
zwei- und mehrstimmigen Satze rnit Hiilfe anderer (vielleicht seiner
Studiengenossen) zur Ansfilhrung bfingt, und skh nicht damit begniigt,
die Wirkung seiner Oompositionsvetsuche blos durch das Instrumenten
spiel zu priifen, welches immer nur ein N otbehelf fiir die wahren
harmonischen Verhaltnisse sein kann. *)
In der Anordnung des Lehrganges bin ich wie in der ersten Auf
lage J osErH Fux gefolgt, **) welcher mit grofser Kenntnis und Ge
wissenhaftigkeit die Lehren der alteren Vocalcomponisten nicht nur
gesammelt, sondern auch in ein fiir den Unterricht ungemein zweck·
mafsig;es und consequent durchgefiihrtes System gebracht hat. In
meiner Einleitung, welche grOfstenteils geschichtlichen Inhaltes ist,
und auch in der Lehre vom Oontrapunkt und der Fuge selbst, habe
ich die einzelnen Abschnitte ausfiihrlicher und klarer als in der ersten
Auflage behandelt, so dass der Umfang der Schrift sich nicht unbe
deutend erweitert hat.
So moge denn diese zweite Auflage des Contrapunktes der wahren
Kurist zum N utzen gereichen und immer mehr die Uberzeugung ver
b rei ten und befestigen, dass alle musikalische Bildung vom Gesange
ihren Ausgang nehmen muss. Die Statte aber fiir den Gesangsunter
richt miissen die offentlichen Schulen, Mhere wie niedere, sein. Nur
I
*) Vergl. des V erf. Schrift: ,Die Grofse der musikalischen Intervalle als Grund
lage der Harmonie, mit zwei lithogr. Tafeln. Berlin 1873. Verl. von Jul. Springer."
**) Graclus ad Parnass1tm sive manuductio ad compositionem musicae regularem,
methoclo nova ac cet·ta, noncl1tm ante tam exacto orcline in lucem eclita, elaborata a
JOANNE J osEPno Fux, Sacrae Caesareae ac Regiae Catholicae Majestatis 0AROLI vr.
Romanontm Imperatm·is supremo chori praefecto. Viennae Austriae, typis Joannis
fetri van Ghelen, 1725. Fux ist 1660 in Steiermark geboren und am 13. Februar 1741
zu Wien_ gestorben. Uber seine Lebensverbaltnisse vergl. ,Jo nANN JosEF Fux, Hoi
compositor und Hofkapellmeister der Kaiser Leopold I., Josef I. und Karl VI. von
1698 bis 1740. Nach urkundlichen Forschungen von Dr. LunwrG RrTTER voN KocHEL.
\Vien. 187Z."
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wenn man in den Schulen dem Gesange wieder, wie es in friiheren
J ahrhunderten der Fall war, einen wichtigen und ehrenvollen Platz
bei der Erziehung einraumt und dafiir Sorge tragt, dass jeder einzelne
Mensch schon im zarten Jugendalter angehalten wird, mit seiner eigenen
Stimme die rhythmischen und harmonischen Verhaltnisse zu genauer
Darstellung zu bringen, ist auf eine allgemeine Besserung des musi
kalischen Geschmackes und unserer musikalischen Zustande iiberhaupt
zu ho:ffen.
Das vorliegende Buch ist daher recht eigentlich fiir den kiinftigen
Gesanglehrer geschrieben, der durch dasselbe mit jenen Zeiten vertraut
gemacht werden soU, in denen der Gesang allein fUr kunstgemafse
Musik gehalten wurde und noch nicht durch den schadlichen Einfl.uss
der Instrumentalmusik verdorben war.
Gewiss hat die Instrumentalmusik auch ihren Wert und ihre Be
rechtigung; so lange sie sich namlich in den bescheidenen Grenzen
einer Nachahmerin des Gesanges halt und von jenem ihre Gesetze ab
leitet. Im Laufe der Zeiten, schon seit Anfang des achtzehnten J ahr
hunderts und noch friiher, hat dieses Verbaltnis sich aber geradezu
umgekehrt. Das, was man auf einem mechanisch zu handhabenden
Gerat durch aufsere Hiilfsmittel, durch vorheriges Abstimmen u. s. w.
hervorbringen kann, wird jetzt auch der menschlichen Stimme zuge
mutet. Und hierin ist vor allen Dingen die Verschlechterung der
heutigen Gesangskunst, der Verderb der menschlichen Stimme, ja selbst
die Verminderung der musikalischen Anlagen bei der grofsen Mehrzahl
der Menschen zu suchen. Denn anstatt von den einfachsten Verhalt
nissen beim Unterrichte auszugehen und die SchUler anzuhalten, diese
mit der grofsten Vollkommenheit und Reinheit auszufiihren, wird jetzt
oft schon in den ersten Stunden die Aufgabe gestellt, Intervalle zu
singen, die selbst das Ohr eines Geiibteren nur schwer aufzufassen ver
mag, wodurch der musikalische Sinn so weit abgestumpft wird, dass
vollkommene Reinheit ibm auch bei den einfachsten Consonanzen schliefs
lich nicht mehr Bediirfnis ist. Hieraus folgt aber, dass nur der ein
guter Gesanglehrer sein kann, der selbst ein griindliches Studium der
rhythmischen und harmonischen Verbaltnisse durchgemacht hat, in
deren richtiger Darstellung er seine Schiller zu unterweisen hat, wozu
mehr gehOrt als die blofse Kenntnis von der Anatomie des mensch
lichen Kehlkopfes und der Atmungswerkzeuge.
Wenn der St.aat nun, wie es in anerkennenswerter Weise der
Fall ist , selbst das musikalische Studium zu heben sucht, so kann er
dies mit gutem Erfolge nur dann thun, wenn er in dem bier angedeu
teten Sinne fordernd eingreift und die Musik zu ihrem natiirlichen
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Ursprung zuriickfiihrt. Seine Aufgabe ware es daher, anstatt Schulen
flir virtuoses Instrumentenspiel zu griinden, ein Institut zu schaffen,
welches gebildete junge Manner zu tiichtigen Vocalcomponisten und
Gesanglehrern fiir unsere offentlichen Lehranstalten ausbildete. Das
wiirde eine wahre Hochschule der Musik sein: dann wiirde allmahlich
das ganze Volk wieder die richtigen Grundsatze der musikalischen
Kunst erlernen, und aile jene Ausschreitungen, wie sie heutzutage in
anspruchsvoller Formlosigkeit und Unnatur auftreten, wiirden von selbst
zu Grunde gehen. Denn der Einzelne hatte in der Schule so viel
Musik gelernt, dass er ein selbststandiges Urteil gewonnen und die Spreu
vom Weizen unterscheiden konnte. Aufserdem wiirde die Musik aber
auch selbst wieder zu ihren alten Ehren gelangen: denn als Bildungs
mittel, wie sie es bei den Alten war, kann sie nur Wert haben, wenn
sie mit !lem Worte, mit der menschlichen Sprache vereint zur
Ausfiihrung kommt.
Berlin, im September 1876.
H. B.
Vorwort zur ersten Auflage.
(Abgekiirzt.)
lch iibergebe hiermit der Offentlichkeit eine Schrift iiber den Con
trapunkt, in welcher ich den Gang der Studien beschrieben habe,
welche ein angehender Oomponist durchzumachen hat, wenn er in den
sicheren Besitz einer fliefsenden und correcten Stimmfiihrung gelangen
will. So viel und so vielerlei auch heutzri.t~ge · cothpo~iert wird, so
selten ist es doch, dass in diesem wichtigsten Zweig der musikalischen
Oompositionstecbnik, in der Stimmfiihrung, die notigen Vorstudien
gemacht sind, - ja, wir besitzen nicht einmal ein Werk aus der
neueren Zeit, das hierin den notigen UnteiTicht erteilt. In der vor
liegenden Arbeit habe ich es versucht, diese Liicke auszufiillen.
Unsere Musik, wie sie sich seit dem dreizehnten Jahrhundert all
mahlich entwickelt hat, ist die mehrstimmige Musik; ein grofser Teil
ihrer \Virkungen beruht auf einem gleichzeitigen Erklingen mehrerer
nebeneinander gefiihrter Stimmen. Hierin besteht die wahre Mehr
stimmigkeit, nicht aber in einer Aneinanderreihung von fertigen Ac
corden (wie dies heutzutage haufig in Oompositionen angewendet, ja
sogar in Lehrbiichern anempfohlen wird), sondern die Accorde sind
erst die Folge einer gleichzeitigen Verbindung mehrerer melodisch
sangbar geflihrter Stimmen. Urn aber in dieser Kunst der Stimm
fiihrung zu einiger Sicherheit zu gelangen, muss eine lange, selten von
neueren Oomponisten mit Griindlichkeit betriebene Schule durchgemacht
werden. Die blofse Harmonielehre und die Art und Weise, wie wir
in neueren Oompositionslehren die sogenannten polyphonen Formen, die
Fuge u. dgL abgehandelt finden, sind aber in keiner Weise ein Ersatz
fiir wirkliche contrapunktische Ubungen. Wie haufig sehen wir nicht,
dass der Mangel fliefsender Stimmen ( denken wir z. B. an Ohorcom
positionen mit Orchesterbegleitung) durch ein Haschen nach ganz
aufserlichen Effekten, durch eine sogenannte ,elegante Instrumentation",